Wiederaufbau der berühmten Notre-Dame – die Seele von Paris
Anne kam gerade von ihrem Pariser Büro nach Hause, als sie im Fernsehen das Unfassbare sah: Notre-Dame stand in Flammen. „Mein erster Gedanke war: Das kann nicht wahr sein“, erzählt die 57-Jährige. „Das müssen manipulierte Bilder sein.“ Damit war sie nicht allein, vielen Parisern ging es ebenso. Doch schnell realisierte sie, dass es sich um eine Live-Übertragung der Télévision Française 1 handelte, direkt vom Schauplatz der Katastrophe auf der Île de la Cité.
Stephan Albrecht hielt sich an jenem tragischen Aprilabend in Bordeaux auf, wo seine Tochter ein soziales Jahr absolvierte. Der Kunsthistoriker und Professor für Kunstgeschichte an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg erforscht mit seinem Team seit 2015 die Pariser Notre-Dame. Vor dem Brand entstanden über Jahre hinweg 3D-Scans vom Querhaus der Kathedrale. Erst durch den Anruf eines Bekannten erfuhr Albrecht von dem verheerenden Brand. „Ich dachte, er macht einen verspäteten Aprilscherz“, erinnert er sich. Nein, es handelte sich nicht um den 1. April, sondern um den 15. April 2019.
Um 18.20 Uhr schrillte ein Feueralarm in der Kirche. Weil man nichts Beunruhigendes entdeckte, ging man von einem Fehlalarm aus und feierte planmäßig mit Gläubigen eine Messe. Beim zweiten Feueralarm um 18.43 Uhr loderten bereits meterhohe Flammen im hölzernen Dachstuhl. Zum Glück konnten alle Kirchenbesucher rechtzeitig evakuiert werden. In den darauffolgenden Minuten avancierte Jean-Marc Fournier, der Kaplan der Pariser Feuerwehr, zum Helden dieser Tragödie. Als Geistlicher leistete er vor Ort nicht nur seelischen Beistand, sondern begab sich, unterstützt von einigen Feuerwehrleuten, mitten in das Inferno. „Als wir in der Kathedrale standen, regneten Asche, Funken und glühende Fetzen von oben herunter“, erzählte Fournier dem Radiosender Europe1. Seine Kollegen und er brachten unter anderem die Dornenkrone, die Jesus Christus bei seiner Kreuzigung getragen haben soll, das Büßergewand von Louis IX. sowie wertvolle Gemälde in Sicherheit. Bevor er wieder den Ausgang erreichte, habe er „Christus dazu ermuntert, dass er uns helfen soll, seine Heimstätte vor den Flammen zu schützen.“
Etwas mehr als eine Stunde nach dem zweiten Feueralarm, um 19.56 Uhr, stürzte der Vierungsturm ein, durchschlug das Dach und krachte auf den Boden, wo sich Haupt- und Querschiff treffen. Der hölzerne Dachstuhl verbrannte komplett, das Dach aus rund 250 Tonnen Blei schmolz. „Meine erste Reaktion auf die Katastrophe war zugegebenermaßen egoistisch“, meint Professor Albrecht. „Ich forsche seit vielen Jahren in dieser Kathedrale – und nun sollte alles umsonst gewesen sein? Und als nächstes erfasste mich natürlich der Gedanke, dass ein jahrhundertealtes Weltkulturerbe vielleicht bald komplett in Schutt und Asche liegen könnte.“
Bis in die Morgenstunden des 16. Aprils dauerte der Kampf gegen die Flammen, um 9.50 Uhr waren sie offiziell gelöscht. Aber wie konnte das Feuer überhaupt ausbrechen? Brandstiftung? Ein Terroranschlag? Ein Kurzschluss oder eine achtlos weggeworfene Zigarette von Bauarbeitern, die zum Zeitpunkt der Katastrophe den Dachstuhl und Vierungsturm renovierten? Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Mit dem Vermerk „Brandursache unbekannt“ stellt die Polizei ihre Ermittlungen ein. Dafür gibt es eine andere Gewissheit: Das Fundament, die Westfassade mit den Haupttürmen, die Rosette sowie das Strebewerk waren intakt geblieben. Und das Gewölbe des Hauptschiffs wies lediglich ein paar Risse auf. Auch wenn sich nicht hundertprozentig ausschließen ließ, dass noch Teile des Gebäudes einstürzen könnten, sinnierte Kaplan Fournier an Tag eins nach der Katastrophe: „Hat Christus mich gehört oder lag es am großartigen Einsatz meiner Kollegen? Möglicherweise an beidem.“ Die Forschungsarbeit unter Leitung von Professor Albrecht ist nicht, wie er zunächst befürchtet hatte, umsonst gewesen, sondern erweist sich als Glücksfall für die Kathedrale. „Mein Team und ich hatten vor dem Brand einen exakten 3D-Scan des Querhauses in Topauflösung angefertigt“, erklärt er. Davor existierte bereits eine digitale Version der gesamten Kathedrale von dem inzwischen verstorbenen Kunsthistoriker Andrew Tallon. „Eine gute Basis, allerdings war die Auflösung damals technikbedingt bei Weitem nicht so brillant wie heute.“ Ihre Daten stellt die Universität Bamberg dem französischen Staat zur Verfügung, was sich laut Albrecht als „gewaltiger Verwaltungsakt“ entpuppt. Mittlerweile kann das interdisziplinäre Team aus Ingenieuren, Physikern, Geologen, Statikern, Akustikern, Archäologen und Kunsthistorikern auf eine hervorragende 3D-Datenbank zurückgreifen. „Ohne diese“, da ist sich der deutsche Experte sicher, „wäre der Wiederaufbau nur schwer möglich.“
Zwei Aussagen beeinflussen die Arbeiten an Notre-Dame maßgeblich. In einer Fernsehansprache verspricht Präsident Emmanuel Macron am Tag nach dem Brand Frankreich und der ganzen Welt: Das gotische Meisterwerk aus dem zwölften Jahrhundert werde in nur fünf Jahren „noch schöner als vorher“ aufgebaut sein. Pünktlich zu den Olympischen Sommerspielen 2024 in Paris solle Notre-Dame wieder für das Publikum geöffnet werden. Zu diesem Zeitpunkt wusste der Präsident allerdings nichts von der bevorstehenden Corona-Pandemie, die die Baustelle monatelang lahmlegen sollte. Und er wusste nicht, dass allein die Stabilisierung des Bauwerks zwei Jahre in Anspruch nehmen würde. Viele Experten zeigen sich empört über das vorgegebene enge Zeitfenster, so zum Beispiel Marie Dupuis-Courtes, Präsidentin des auf die Restaurierung historischer Monumente spezialisierten Unternehmens Cailly: „Wir sind nicht in einem Schnelligkeitswettbewerb. Es braucht Zeit, um die Dinge im Respekt vor dem Kulturerbe zu machen.“ Apropos Kulturerbe: Chefkonservator Stéphane Deschamps trifft die zweite entscheidende Aussage angesichts des zerstörten Dachstuhls, Daches und Mauerwerks, das sich meterhoch auf dem Boden der Kathedrale türmt: „Bisher sprachen alle von Schutt. Das ist aber kein Schutt, das sind Teile des Kulturerbes. Wir werden sie wie archäologische Relikte behandeln.“
Damit ist klar, dass nicht einfach schweres Gerät anrücken kann, um die Trümmer zügig zu beseitigen. Experten bergen monatelang die herabgestürzten Steinblöcke, verkohlten Dachbalken und Eisenornamente. Sie untersuchen, fotografieren und nummerieren jedes einzelne Stück akribisch und entscheiden, was man archivieren oder was man – wenn möglich – wiederverwenden kann.
Vorsicht ist geboten, denn „alle Fragmente sind mit einer gesundheitsschädlichen Bleischicht überzogen“, erläutert Professor Albrecht. „Beim Schmelzen des Bleidaches verteilte sich der giftige Staub in der ganzen Kathedrale.“ Unterschiedliche Teams sind in die Rekonstruktion der Notre-Dame involviert, unter anderem gibt es die Arbeitsgruppen „Stein“, „Holz“, „Glas“, „Digital“ und „Klang“.
Für alle gilt die gleiche Herausforderung: Wie eine mittelalterliche Kathedrale wiederaufbauen? Mit welchen Materialien? Mit welchen Techniken und Handwerkern? Wegen ihrer Berühmtheit und des damit verbundenen großen Touristenandrangs – Notre-Dame war mit rund 12 Millionen Besuchern jährlich das meistbesuchte Wahrzeichen der französischen Hauptstadt – gab es in den vergangenen Jahrzehnten kaum Gelegenheit, die Kathedrale eingehend zu erforschen. Außerdem hätte der französische Staat, dem alle vor 1905 gebauten Kirchengebäude gehören, eine aufwändige Restaurierung nie allein finanzieren können – oder wollen.
Das ändert sich im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht. Nach dem Brand gehen Spenden in Höhe von 846 Millionen Euro aus 150 Ländern ein, die den Wiederaufbau und eine umfassende Restauration ermöglichen. „Mittlerweile ist der gesamte Bau innen und außen mit einer zweiten Haut von Gerüsten umgeben. Das hat es in der Vergangenheit so nicht gegeben, und das wird es vermutlich in den kommenden Jahrhunderten auch nicht wieder geben“, schildert Professor Albrecht die Situation vor Ort.
Hinsichtlich der Rekonstruktion der Notre-Dame entbrannte unter Wissenschaftlern, Politikern und der Bevölkerung eine hitzige Diskussion darüber, ob und wie originalgetreu diese sein sollte. Nachdem Präsident Macron anfangs mit einem zeitgenössischen Ansatz liebäugelte, ließ er sich von der Mehrheit der Experten überzeugen, dass der Wiederaufbau zumindest außen „à l’identique“, das heißt, wie vor dem Brand, erfolgen sollte. Innovative Ideen wie ein Schwimmbad oder ein Biotop auf dem Kathedralendach oder ein moderner Vierungsturm aus Glas wurden ad acta gelegt. „Zum Glück!“, seufzt die Pariserin Anne erleichtert und gehört damit zur klaren Mehrheit der Einheimischen, die sich einen möglichst originalgetreuen Wiederaufbau wünscht. „Wir sollten diese alte Kathedrale nicht verfälschen. Ich hoffe, dass wir das zurückbekommen, wofür wir regelmäßig dorthin gegangen sind: einen majestätischen Ort der Besinnung. Notre-Dame war die Seele von Paris – und das soll sie unbedingt bleiben!“ Professor Albrecht sieht das ähnlich und fordert „Demut vor der Geschichte“. Doch trotz des Strebens nach einem weitgehend originalen Wiederaufbau müsse man aus rein pragmatischen Gründen Abstriche machen. „Was zum Beispiel das Gewölbe anbelangt, können wir viele der herabgestürzten Steine nicht wiederverwenden“, sagt Albrecht. „Aber meinen französischen Kollegen gelang es glücklicherweise, verschiedene Steinbrüche rund um Paris als Herkunftsort des original verwendeten Sandsteins zu identifizieren.“ Ausschließlich von dort stammt das Material für den Wiederaufbau.
Und was passiert mit dem komplett verkohlten Dachstuhl? „Es gab Überlegungen, die Holzkonstruktion durch eine moderne Stahlkonstruktion, die jedem zukünftigen Feuer trotzen würde, zu ersetzen“, erläutert der deutsche Professor. „Sie wäre für die Besucher nicht sichtbar, doch weder das Fundament noch die gesamte Statik der Kathedrale sind dafür ausgelegt. Bei der engen Zeitvorgabe ließ sich diese Idee nicht realisieren.“ So wurden im ganzen Land 2000 mindestens 100 Jahre alte Eichen gefällt, um den als „la forêt“ (Wald) bezeichneten Dachstuhl zu rekonstruieren. Gegner dieser Maßnahme sprechen in Zeiten des Klimawandels und Waldsterbens von einem „Ökozid“. Doch die von ihnen eingereichte Petition scheitert mangels Befürwortern.
Während die Zimmerleute die Baumstämme mit Sägen und Äxten bearbeiten, wie es aus mittelalterlichen Quellen überliefert ist, reinigt die Arbeitsgruppe „Stein“ mit Hilfe spezieller Latextücher jeden Zentimeter der stark verschmutzten Kirchenwände. Nachdem nicht nur die Brandspuren, sondern vor allem die dicke Schicht des Kerzenrußes verschwunden ist, kommen Markierungen der alten Steinmetze zum Vorschein, von denen die Experten bislang keine Ahnung hatten. „Diese Baustelle ist wirklich spannend“, sagt Professor Albrecht begeistert. „Beinahe jeden Tag entdecken wir etwas Neues und erlangen neue Erkenntnisse!“
So auch unter dem Fußboden, der durch den Einsturz des mehrere hundert Tonnen schweren Gewölbes zerstört wurde. Darunter befinden sich lange verborgene Räume, Fundamente von Vorgängerbauten sowie Sarkophage aus Blei und aus Stein. „Die größte Sensation für mich ist allerdings, dass wir Reste des Lettners aus dem 13. Jahrhundert entdeckt haben“, erzählt der Kunsthistoriker. „Dieses Bauteil trennte den Altar vom restlichen Kirchenraum. Seine Skulpturen gehören zu den qualitätsvollsten des Mittelalters, vor allem, weil ihre Farbigkeit fast vollständig erhalten ist.“ Zeit für ausgiebige archäologische Ausgrabungen bleibt nicht, denn nachdem die wichtigsten Fundstücke geborgen worden waren, versiegeln Arbeiter den Fußboden mit einer Betonplatte. Der Kran, der für das Gewölbe und Dach gebraucht wird, muss auf sicherem Untergrund stehen und helfen, die fünf Jahre Bauzeit einzuhalten.
Zu den Olympischen Sommerspielen klappt es mit der Wiedereröffnung nicht ganz. Dank einer gigantischen Gemeinschaftsleistung der unterschiedlichen Gewerke und Wissenschaften öffnet Notre-Dame ihre Tore für Gottesdienste und für Besucher jedoch im Dezember 2024. Laut Kulturministerin Rima Abdul-Malak dauern weitere Renovierungsarbeiten – Stand Mai 2023 – noch bis 2025.
„Natürlich hätten wir für die Forschung gerne mehr Zeit gehabt“, sagt Professor Albrecht. „Andererseits führte der Zeitdruck zu schnellen Entscheidungen und einer straffen, gut organisierten Arbeitsweise – und trotzdem zu einem Riesenzugewinn an Wissen.“ Anne zieht vor allem in sozialer Hinsicht ein positives Fazit: „Alle Franzosen haben mit Spenden diese nationale Sache unterstützt. So zerrissen unsere Gesellschaft auch ist, was unsere Kathedrale anbelangt, waren wir uns einig wie seit Langem nicht mehr.“