Valencia – Umwelthauptstadt 2024
„Das Flussbett gehört uns, und wir wollen es grün!“ 2024 konnte sich Valencia mit dem Titel „Umwelthauptstadt“ schmücken. Ohne die tatkräftige Unterstützung der Bevölkerung wäre es zu dieser Auszeichnung nie gekommen.

Endlich Wochenende! Familie García-Lopez packt einen Picknickkorb und Badezeug auf die Fahrräder und fährt los. Bis zum Sandstrand Malvarrosa legen die Eltern mit ihren beiden Kindern sowie Oma und Opa einige Kilometer quer durch die Stadt zurück. Eine wunderbare, autofreie Tour durch Spaniens drittgrößte Metropole dank des Jardín del Turia, der direkt vor der Tür ihres Hochhauskomplexes beginnt. Die Parkanlage verbindet den Nordwesten des Stadtgebietes mit dem Südosten. Unterwegs passiert die Familie Fußball- und Basketballplätze, Skaterparks und Fitnessflächen, die über 2000 Jahre alte Altstadt, Cafés, Brunnen, Wiesen und Wäldchen und jede Menge Spielplätze. Lieblings-Zwischenstopp für den sechsjährigen Juan ist Gulliver. Der Riese, 70 Meter lang und neun Meter hoch, liegt ausgestreckt auf dem Boden. Mit Hilfe von Leitern, Seilen und Rampen klettern Kinder, wie die Liliputaner in Jonathan Swifts Roman, an Armen, Beinen und Haaren der aus Fiberglas gegossenen Figur hinauf und gleiten auf zahlreichen Rutschen wieder hinab.

Nach der Spielplatzpause radelt die Familie weiter durch die futuristische „Ciutat de les Arts i les Ciències“ – zu Deutsch: Stadt der Künste und der Wissenschaften – am östlichen Ende des Turia-Gartens. Der avantgardistische Architektur- und Parkkomplex, u. a. mit der Oper und dem Planetarium L’Hemisfèric, ist das Meisterwerk eines berühmten Sohnes der Stadt: des Stararchitekten Santiago Calatrava. Opa Felipe zeigt auf die spektakulären Bauwerke: „Könnt ihr euch vorstellen, dass hier eine Autobahn gebaut werden sollte?“, fragt er seine Enkelkinder. „Die ganze Strecke, die wir mit dem Rad gefahren sind, eine Autobahn?“ Die Kinder schütteln ungläubig den Kopf. „Und was ist mit Gulliver?“, will Juan wissen. „Den würde es nicht geben“, antwortet seine Großmutter, „und das Planetarium auch nicht.“ Dann fügt sie mit leuchtenden Augen hinzu: „Aber wir Valencianer haben uns gegen die Politik aufgelehnt und gewonnen!“ Der Kleine klatscht vor Begeisterung in die Hände.
Bevor es den Turia-Park gab, der entscheidenden Einfluss auf die Titelvergabe „Umwelthauptstadt 2024“ durch die EU-Kommission hatte, floss hier der Río Turia. Am 14. Oktober 1957 kam es nach Starkregen zur größten Flutkatastrophe in der Stadtgeschichte: Der Fluss setzte ganze Viertel unter Wasser, zerstörte Brücken, Straßen und Häuser. Die Überschwemmung forderte mindestens 81 Todesopfer. Die spanische Zentralregierung zog Konsequenzen und beschloss, den Turia vor den Toren Valencias zu teilen und an der Stadt vorbeizuleiten. Das leere Flussbett hielt sie bestens geeignet für eine Autobahn, die Madrid mit den herrlichen Sandstränden in und um Valencia verbinden sollte. Die Empörung der lokalen Bevölkerung gegen dieses Vorhaben war groß, doch ihre Proteste wurden unter dem autoritären Regime Francisco Francos brutal unterdrückt. Dennoch lehnten sich mutige Bürgerinnen und Bürger weiter gegen die Pläne auf. Das Bauvorhaben verzögerte sich bis 1975, dem Todesjahr des Diktators. Die Einheimischen witterten vor dem Hintergrund der neuen demokratischen Freiheiten ihre Chance und protestierten nun lautstark. „Das Bett gehört uns, und wir wollen es grün!“, zitiert Felipe die Parole, mit der er und viele Tausend Demonstrierende einen Park im Flussbett forderten. Mit Erfolg. 1986 wird der erste Teil des Turia-Parks eingeweiht. Mittlerweile ist er mit einer Breite von rund 200 Metern und neun Kilometern Länge der größte innerstädtische Park Spaniens.

Ihm ist es zu verdanken, dass die Jury, die sich aus Vertretern der Europäischen Kommission, der Europäischen Umweltagentur sowie renommierter Umweltorganisationen zusammensetzt, für Valencia als Umwelthauptstadt 2024 gestimmt hat. „Valencia hat sich den Titel Grüne Hauptstadt aufgrund seiner ehrgeizigen Nachhaltigkeitsstrategie verdient und aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt“, konstatiert der Kommissar für Umwelt, Ozeane und Fischerei, Virginijus Sinkevicius, im EU Environment Newsletter. „Seit vielen Jahrzehnten wird die Stadt von einer mutigen Bürgerbewegung vorangetrieben, die einen echten Wandel unterstützt. Die Menschen sind das Kapital Valencias.“

Alljährlich erhält eine Stadt, die sich in besonderer Weise dem Umweltschutz widmet und diesen mit wirtschaftlichem Wachstum und einer hohen Lebensqualität ihrer Einwohner verbindet, den Titel „Umwelthauptstadt Europas“ (auch „Grüne Hauptstadt Europas“). Bewerben dürfen sich Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, die zu den 27 Mitgliedstaaten der EU oder zu den Beitrittskandidaten zählen. Die Kriterien, die die EU-Kommission berücksichtigt, sind beispielsweise der Schutz von Natur und biologischer Vielfalt, Verkehr und Mobilität, die Luft- und Wasserqualität, Initiativen zur Bekämpfung des Klimawandels oder eine verantwortungsbewusste Abfallwirtschaft. Ziel ist es, nachahmenswerte Modelle des kommunalen Umweltschutzes publik zu machen.

Während der Turia-Park schon vor Jahrzehnten die Grundlage für die Auszeichnung gelegt hat, half auch die „Smart-City-Strategie“, die Valencia seit 2015 verfolgt, den Titel zu gewinnen. Hier geht es darum, die Digitalisierung „smart“ zu nutzen und sie gezielt für eine nachhaltige, intelligente Stadtentwicklung einzusetzen. Dazu zählen u. a. eine ausgeklügelte Müllverwertung, der stetige Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel und Radwege, komplett autofreie Zonen sowie eine Lärmkarte, die die störendsten Lärmquellen identifiziert, um sie systematisch zu bekämpfen. Stolz ist die Stadt auch auf ihr „Null-Kilometer-Konzept“. Im Gemüsegarten vor der Stadt, der Huerta valenciana, werden regionale und saisonale Lebensmittel angebaut, die helfen, durch minimale Transportwege CO2-Emissionen einzusparen.

Genau dazu trägt auch die Modernisierung der Straßen- und Parkbeleuchtung bei. Ohne auf die historischen, gusseisernen Laternen verzichten zu müssen, konnte der Energieverbrauch mit Hilfe eines hochkomplexen Lichtmanagementsystems, das die gesamte Stadtbeleuchtung ferngesteuert verwaltet, um mehr als 75 Prozent reduziert werden. Bei den Treibhausgasemissionen ist es jährlich eine Einsparung von 80 Prozent. Alle Leuchten, sowohl in Parks als auch in der Stadt, sind so konzipiert, dass sie die Fußwege angemessen beleuchten und dabei möglichst wenig Streulicht in die Umgebung abstrahlen. Um die E-Mobilität zu fördern, dienen viele Straßenlaternen als Ladesäulen für E-Autos. Die umfangreichen Maßnahmen bescheren Valencia bereits 2022 den ebenfalls von der EU-Kommission vergebenen Titel „Europäische Hauptstadt des smarten Tourismus“ und eine Teilnahme an der Mission „Klimaneutrale und intelligente Städte“. 100 ausgewählte Städte in Europa sollen bis zum Jahr 2030 klimaneutral werden und als Experimentier- und Innovationszentren dienen, um allen europäischen Städten bis 2050 den Weg in die Klimaneutralität zu weisen.

Nur während der alljährlich im März stattfindenden „Fallas“ geraten die beiden für eine Umwelthauptstadt wichtigen Indikatoren Lärmschutz und Luftqualität in den Hintergrund. Wochenlang knallen Böller, und es finden täglich spektakuläre Pyrotechnik-Shows statt, um die Ankunft des Frühlings zu feiern. In der „Nacht des Feuers“ vom 19. auf den 20. März gipfeln die Feierlichkeiten in der Verbrennung hunderter kunstvoll gestalteter und teils meterhoher Figuren. Nicht erst, seitdem Valencia Grüne Hauptstadt ist, wettern Umwelt- und Tierschutzorganisationen gegen das Volksfest, das die Bevölkerung frenetisch feiert. Kritikpunkte sind vor allem der ohrenbetäubende Lärm und die pechschwarzen Rauchwolken, die bei der Verbrennung der Figuren, der „Fallas“, entstehen. „Früher bestanden die Fallas aus einer Holzstruktur, und die Figuren wurden meist aus Materialien wie Karton modelliert“, erzählt Toni Fornes, der in seinen 26 Jahren als Fallas-Künstler 292 Figuren gebaut hat, in einem Interview des Internetforums „Valencia für Deutsche“. „Leider gibt es immer weniger Künstler, die die alten Techniken beherrschen.“ So komme fast ausschließlich das sehr umweltschädliche Styropor zum Einsatz.

Auf die Frage „sollte Valencia als Grüne Hauptstadt auf die Fallas verzichten?“ schüttelt Felipe vehement den Kopf. „Einen Autobahnbau für einen Park zu verhindern, ist eine Sache“, sagt er. „Aber unsere Tradition aufgeben? Dafür würde ich nicht kämpfen.“ Sein Sohn Pablo sieht das anders: „Wir müssen unsere Tradition ja nicht aufgeben, aber wir müssen sie an die aktuellen Herausforderungen anpassen.“ Der 37-Jährige verweist auf die experimentellen Fallas, die seit Anfang der 1990er-Jahren existieren, aber leider immer noch zu wenig Beachtung finden. „Sie sind im Rahmen eines städtischen Wettbewerbs entstanden“, erinnert er sich. „Die Figuren werden aus nachhaltigen Materialien gebaut und setzen sich mit relevanten Zukunftsthemen auseinander: Klimawandel, Sexismus oder Einwanderung zum Beispiel. Sie sollten uns als Vorbild für die Zukunft dienen.“
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