Singapurs Zukunftspläne - Alles im grünen Bereich

In den nächsten sieben Jahren wird aus der Gartenstadt Singapur eine Stadt im Garten. Was marginal anders klingt, ist in Wahrheit eines der ehrgeizigsten Stadtentwicklungsprojekte weltweit.

Singapurs Zukunftspläne - Alles im grünen Bereich

Ella bohrt mit ihrem Zeigefinger ein Loch in die lockere Erde. Dann platziert sie einen Koriander-Setzling in der Vertiefung und deckt alles wieder behutsam mit dem Humus zu. An dem neun Meter hohen turmartigen Aluminiumgestell hängen zig Pflanzkästen, in denen Gewürze wie Koriander, Basilikum und Rosmarin, aber auch Salate und verschiedene Kohlsorten gedeihen.

Die 22-Jährige sammelt im Rahmen ihrer Ausbildung am Singapurer Temasek Polytechnic College praktische Erfahrung im „Urban Farming“. Heute besucht sie zusammen mit ihren Kommilitonen das lokale Unternehmen Sky Greens, das diese Gemüsetürme vor einigen Jahren erfunden hat und sich auf der eigenen Website stolz als „weltweit erste kohlenstoffarme, hydraulisch angetriebene vertikale Farm“ bezeichnet.

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Singapur liegt südlich von Malaysia. Durch den „Second Link“, eine 1998 eröffnete Brücke, ist der asiatische Inselstaat mit Malaysia verbunden. Zu Singapur gehören eine Hauptinsel sowie drei größere und 58 kleinere Inseln.

„Singapur mit seinen über fünf Millionen Einwohnern auf einer so kleinen Landfläche hat schlicht keinen Platz für Acker- und Viehwirtschaft“, erklärt Ella. „Unser Steak kommt aus Australien, unser Reis aus Indien oder Thailand, unser Käse aus Frankreich. Derzeit importieren wir ca. 90 Prozent unserer Nahrungsmittel und produzieren so gut wie nichts selbst, was auf unseren Tellern landet.“ Die Studentin zeigt auf die langsam rotierenden Pflanzkästen, und man spürt ihre Begeisterung: „Diese vertikale Anbaumethode ist nicht nur nachhaltig und raumsparend, sie bringt auch eine zehnfach höhere Erntemenge als bei gleicher Fläche am Boden.“

Singapur ist ungefähr so groß wie Hamburg und hat 5,3 Millionen Einwohner. Die Bevölkerungsdichte liegt bei über 7.600 Menschen pro km². Zum Vergleich: In Hamburg leben bei 755 km² Landfläche und ungefähr 1,8 Millionen Einwohnern „nur“ knapp 2.400 Menschen pro km².

Die Notwendigkeit, die Abhängigkeit von Einfuhren drastisch zu reduzieren und die Ernährung der Bevölkerung in der Zukunft sicherzustellen, hat die Regierung längst erkannt. Unbürokratisch unterstützt sie solche Erfindungen wie die Gemüsetürme von Sky Greens und innovative Ideen anderer Firmen mit einer gezielten Forschungs- und Wirtschaftsförderung. Die staatliche Lebensmittelbehörde führte kürzlich extra ein Regelwerk für „neuartige Lebensmittel“ ein, um Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Damit lockte der Stadtstaat unter anderem das US-Unternehmen Just Eat an, das sogenanntes In-vitro-Fleisch produziert. Weil der Fleischkonsum als ein Hauptverursacher des Klimawandels gilt, erlaubte Singapur 2020 als erstes Land weltweit den Verkauf und Verzehr dieser im Labor gezüchteten panierten Chicken Nuggets.

Im Global Innovation Index der UN-Organisation WIPO ist Singapur seit Jahren unter den Top Ten der innovativsten Staaten der Welt platziert. „Stetige Innovation ist Teil der DNA Singapurs“, bestätigt Cedric Zhou, Direktor des Singapore Tourism Board in Frankfurt. „Investitionen in Innovation und grüne Entwicklung lohnen sich aus unserer Sicht immer.“

Nach der Unabhängigkeit von den Briten und dem Austritt aus der Föderation Malaysia wurde es 1965 ein souveräner Staat. Zu der Zeit verkündete der erste Premierminister Lee Kuan Yew seine ehrgeizige Vision, Singapur in eine Stadt zu verwandeln, die sich durch viel Grün und eine saubere Umgebung auszeichnet. Nur so könne das Leben für die Menschen vor Ort angenehmer und für Touristen attraktiver werden.

Bis dahin hatte niemand über Umweltschutz oder eine höhere Lebensqualität für die Bewohner nachgedacht, geschweige denn über Singapur als Urlaubsdestination. Während Lee Kuan Yews mehr als 30-jähriger Amtszeit wuchs aus ärmlichen, dörflichen Strukturen eine glitzernde Millionen-Metropole mit 19,1 Millionen Touristen jährlich (vor der Pandemie) und zugleich eines der wichtigsten Handels-, Finanz- und Wirtschaftszentren Asiens. Weil der Staatsgründer seine Vision mit eiserner Hand umsetzte, gelang Singapur innerhalb weniger Jahrzehnte der Sprung vom Entwicklungsland zur Industrienation.

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Regierungschef Lee Hsien Loong nannte in seiner Rede zum Nationalfeiertag 2019 drei große Herausforderungen für sein Land: den Klimawandel verstehen, ihn abschwächen und sich anpassen. Steigt der Meeresspiegel wie vorausgesagt weiter, könnten große Teile der Stadt bis 2100 unter Wasser liegen.

Lee Kuan Yews Nachfolger bauten die Idee der „Garden City“ beharrlich aus – und schraubten die Ansprüche nach der Jahrtausendwende sogar noch höher: Aus der Gartenstadt solle eine Stadt im Garten werden. Ein minimaler Unterschied in der Formulierung, ein großer für die Zukunft der Singapurer. Lee Hsien Loong, aktueller Premierminister und ältester Sohn des verstorbenen Staatsgründers, schwört die Nation darauf ein, bei diesem Vorhaben aktiv mitzuhelfen. Der Klimaschutz sei für Singapur und seine zukünftigen Generationen existenziell.

Die konkreten Maßnahmen und ehrgeizigen Ziele dazu sind im sogenannten „Green Plan 2030“ verankert, den die Regierung 2021 auf den Weg gebracht hat. „Der Plan unterstreicht, wie ernst Singapur die Verpflichtungen im Rahmen des Pariser Abkommens und der UN-Agenda für nachhaltige Entwicklung nimmt“, sagt Cedric Zhou. „Wir wollen unser langfristiges Ziel von Netto-Null-Emissionen so schnell wie möglich erreichen. Das erste Etappenziel ist 2030.“

Das spektakuläre Landschaftsarchitektur-Projekt „Gardens by the Bay“ ist seit der Eröffnung 2012 nicht nur ein Touristenmagnet, sondern auch ein Ort der Forschung.

Bei dieser umfassenden Zukunftsstrategie geht es um ein gigantisches Bündel an Maßnahmen: die Förderung grüner Technologien, nachhaltiger Geschäftsideen und Schaffung neuer Arbeitsplätze; den Ausbau der Elektromobilität, öffentlicher Verkehrsmittel und Radwege; die Reduzierung von Müll, innovatives Recycling, Klima und Hochwasserschutz. Und es geht – wie der Name schon sagt – um mehr Grün in der Stadt.

Noch mehr Grün wäre wohl treffender formuliert. Denn bereits jetzt zählt Singapur zu den grünsten Metropolen weltweit. Während in vielen anderen Großstädten Grünflächen zugunsten von Bebauung verschwinden, nimmt der Anteil der Parks und Naturschutzgebiete in dem südostasiatischen Zwergstaat permanent und systematisch zu. Und das, obwohl das Staatsgebiet begrenzt ist und die Bevölkerung wächst. „Der Grünanteil von 35,7 Prozent im Jahr 1986 stieg auf heute fast 50 Prozent“, erklärt der gebürtige Singapurer Zhou. „Im Green Plan ist festgeschrieben, dass der nächste Park für jeden Einwohner Singapurs innerhalb eines maximal zehnminütigen Spaziergangs erreichbar sein muss.“

Konsequent werden die wichtigsten Parks erweitert und fahrrad- bzw. fußgängerfreundlich miteinander verbunden. So entstehen ökologische Korridore, die sogenannten Nature Ways, die es nicht nur den Tieren ermöglichen, zwischen den Grünflächen zu migrieren, sondern auch den Singapurern, ohne Auto zurecht zu kommen. „Selbst wenn ich das Geld hätte, eine Zulassungslizenz vom Staat für ein Auto zu ersteigern“, sagt Studentin Ella, „würde ich darauf verzichten. Das Park Connector Network macht es einem einfach, sich umweltfreundlich durch die Stadt zu bewegen und dabei die Natur zu genießen.“

Was Singapur unter „Stadt im Garten“ versteht, zeigt der westliche Stadtteil Tengah eindrucksvoll. 42 000 neue Wohnungen sind dort geplant, aktuell befinden sich bereits über 8 000 Wohnungen im Bau. Die grüne Lunge wird ein fünf Kilometer langer und 100 Meter breiter Waldstreifen zwischen üppig begrünten Hochhäusern. Mit Hilfe von Computersimulationen haben die Stadtplaner ausgerechnet, dass die Gebäude für einen idealen Windfluss und eine minimale Hitzeentwicklung unterschiedlich hoch sein müssen. Um Strom zu sparen, gibt es keine üblichen Klimaanlagen mehr. Ein zentrales System leitet gekühltes Wasser in alle Wohnungen eines Hauses. Betrieben wird das Kühlsystem mit Hilfe von Solarpanelen. Auf sogenannten Eco-Boards können die Bewohner ihren eigenen Energieverbrauch steuern und einsehen. „Es ist wichtig, dass die Menschen den ökologischen Fußabdruck ihres Bezirks nachvollziehen können“, sagt einer der verantwortlichen Stadtplaner. „Nur so fördern wir umweltbewusstes Verhalten.“

Das Oasia Hotel Downtown besteht aus offenen Stockwerken, die natürlich belüftet sind und daher keine Klimaanlage benötigen. Die lebende Fassade ist 200 Meter hoch und beherbergt über 20 verschiedene Arten von Kletterpflanzen.

Auch vor bestehenden Wolkenkratzern machen die Begrünungspläne des Stadtstaates nicht halt. 80(!) Prozent der bestehenden Gebäude müssen ihre grauen Betonwände in sauerstoffproduzierendes Grün verwandeln. Ja, müssen. So lautet die staatliche Vorgabe. Eine utopische Zahl? Nicht für Singapur. 80 Prozent sämtlicher Wohngebäude sind zwar Eigentumswohnungen, aber sie sind öffentlich gefördert und werden regelmäßig auf Staatskosten saniert. Und nun eben auch professionell bepflanzt.

Die meisten Singapurer, vor allem ältere Menschen wie die Großeltern von Studentin Ella, profitieren von dem herrschenden System, einer Mischung aus autoritärer Führung und staatlicher Fürsorge. „Als ich ein Kind war, gab es hier statt Wolkenkratzern Dörfer“, erinnert sich ihre Großmutter Mei. „Idyllisch war das nicht, eher eine typische Dritte-Welt-Umgebung: ärmlich, dreckig und wegen krimineller Banden auch gefährlich.“ Ihr Mann Weng nickt und fügt hinzu: „Wir lebten in einer kleinen Hütte, hatten nicht einmal eine Toilettenspülung. Zum Glück versorgte uns der kleine Garten mit dem Nötigsten.“

In Singapur führen alle Wege ins Grün: Über eine Wendeltreppe erreicht man von einer Unterführung aus den Fort Canning Park, der unter anderem den ersten botanischen Garten der Stadt aus dem Jahr 1822 beherbergt.

Unter Premierminister Lee Kuan Yew sei alles viel besser geworden, da sind sich beide einig. „Er verlangte von uns Fleiß, Disziplin und Gehorsam. Was ist daran falsch?“ Westliche Demokratien prangern Lees autokratischen Regierungsstil, den seine Nachfolger bis heute fortsetzen, dagegen gerne an. Vor allem die eingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit sowie das rigide Strafrecht, unter anderem mit einer Todesstrafe durch Erhängen, stoßen auf Kritik – aber eben meist nur im Ausland. In Singapur wurde und wird der Staatsgründer als Übervater verehrt.

„Ohne ihn würden wir unseren Lebensabend sicherlich nicht so verbringen!“ Weng macht eine ausladende Handbewegung und lenkt damit den Blick auf das Gebäude, in dem das Rentnerehepaar lebt. Es handelt sich um das Kampung Admiralty, das von dem renommierten Architekturbüro WOHA entworfen und 2018 mit dem begehrten Preis „World Building of the Year“ ausgezeichnet wurde. Wer glaubt, Mei und Weng würden zur „Upper Class“ Singapurs zählen, irrt. Das Vorzeigegebäude ist ein staatlich subventionierter Sozialbau, in dem unter anderem Senioren leben.

„Kampung ist das malaiische Wort für ‚Dorf‘“, erklärt Meis 80-jähriger Mann und schmunzelt. „Ein Luxusdorf, denn hier gibt es alles, was wir brauchen. Wir müssen das Gebäude nicht einmal für einen Arztbesuch verlassen.“ WOHA orientierte sich an einer intakten Dorfgemeinschaft und baute nach dem Sandwich-Prinzip: Die öffentlich zugängliche Plaza im Erdgeschoss funktioniert wie ein riesiges Gemeinschaftswohnzimmer. Hier finden saisonale Veranstaltungen, Tanzkurse und Märkte statt. In der mittleren Ebene gibt es medizinische Einrichtungen, oben Wohneinheiten und – als Markenzeichen von WOHA – in jeder Etage dschungelartige Grünflächen und Gärten.

Das Kampung Admiralty gleicht einem vertikalen Dorf mit üppigem Dschungel in allen Etagen.

Mehrere Stunden pro Tag verbringen Mei und ihr Mann im Gemeinschaftsgarten im siebten Stockwerk. Mei topft Melonensetzlinge ein, während Weng eine Süßkartoffel für das Mittagessen erntet. „Dass ich einmal Gemüse auf einem Hochhaus anpflanze, hätte ich mir nicht träumen lassen“, sagt er. Was für die beiden eine wunderbare Altersbeschäftigung ist, gehört in Singapur zur bewussten Stadtentwicklung. Laut Green Plan sollen 30 Prozent des Nahrungsmittelbedarfs bis 2030 lokal produziert werden. Um die Bevölkerung zum Mitmachen zu motivieren, hat die Regierung 860.000 kostenlose Saatgutpakete an Singapurer Haushalte verschickt.

„Die Corona-Pandemie beeinträchtigt Lieferketten, und der Klimawandel sorgt für Hungersnöte“, sagt die Studentin Ella. „Unsere Behörden sind alarmiert, und das ist gut so. Vor allem für uns junge Leute. Denn wir müssen heute an unsere Zukunft denken und nicht erst, wenn es zu spät ist!“

Auf den Dächern von Wolkenkratzern betreiben immer mehr Singapurer „Urban Farming“, um einen Teil ihres Lebensmittelbedarfs zu decken.
„Wir arbeiten intensiv daran, eine Stadt in der Natur zu werden, in der große Erlebnisse mit kleinen Fußabdrücken einhergehen.“ ~Cedric Zhou, Singapore Tourism Board

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