Semana Santa – Ostern in Sevilla
Es ist schon dunkel an diesem Gründonnerstag, als die ganz in schwarz gekleidete Frau auf den Balkon tritt und ihr Klagelied anstimmt. Unter ihr, auf der Straße, stehen Menschen dicht aneinander gedrängt, außer ihrer Stimme ist kein Mucks zu hören. Inmitten all der stummen Zuhörer schwankt ein riesiges goldverziertes Holzgestell, das von dutzenden Männern getragen wird, langsam hin und her. Auf ihm thront eine Figur der Jungfrau Maria, umringt von Blumen und Kerzen. Als das Lied zu Ende ist, dreht sich die Sängerin um und geht zurück ins Haus. Es bleibt leise, kein Klatschen, kein Beifall. In der Stille der Dunkelheit setzt die Marienstatue ihren Weg durch die Menschenmenge tänzelnd fort, alle Blicke fest an sich geheftet.
Es ist Karwoche in Sevilla, die wichtigste Zeit des Jahres in der andalusischen Hauptstadt. Die Tage vor Ostern haben hier eine ganz andere Bedeutung als in Deutschland. Der Name sagt es schon: Semana Santa, heilige Woche. Jeden Tag finden Prozessionen statt, bei denen Statuen der Muttergottes, Jesu und anderer Figuren aus der Kreuzigungsgeschichte durch die Straßen getragen werden, auf den sogenannten Pasos, den zum Teil tonnenschweren, prachtvoll geschmückten Gestellen. Die Semana Santa findet überall in Spanien und auch in einigen lateinamerikanischen Ländern statt, doch fast nirgends so intensiv wie in Sevilla.
Vorfreude wie an Weihnachten
„Die Semana Santa in Sevilla ist die größte in Andalusien, auch zahlenmäßig. Pro Tag gibt es zehn bis 15 Prozessionen und es kommen wahrscheinlich Millionen von Besuchern in die Stadt, der komplette Innenstadtbereich wird dafür abgesperrt“, sagt Christiane Schwab. Die Professorin für Europäische Ethnologie hat mehrere Semanas Santas miterlebt und sie in ihrem Buch „Texturen einer Stadt – Kulturwissenschaftliche Lektüren von Sevilla“ wissenschaftlich betrachtet. „Ich muss gestehen, dass ich die Prozessionen am Anfang ziemlich langweilig fand und erst nach einigen Malen begriffen habe, was sie so besonders macht. Die Semana Santa ist wie Weihnachten, ein freudiges Warten.“ Das freudige Warten, es kann für manchen Erstbesucher mit einem kleinen Schreck enden.
Szenenwechsel. Der Abend ist schon vorangeschritten, die Straßen Sevillas sind immer noch voller Menschen, die auf die nächste Prozession warten. Jetzt, wo gerade keine Marienstatue in Sicht ist, herrscht Volksfeststimmung. Familien und Freunde stehen beisammen, es wird geredet und gelacht, Kinder flitzen umher. Dann plötzlich: In der Ferne sind Trommeln zu hören. Das Stimmengewirr wird leiser, die Hälse recken sich. Und da sind sie: dutzende von vermummten Gestalten, die vor allem bei ausländischen Gästen Erinnerungen an den Ku-Klux-Klan wecken. Die Nazarenos, die Büßer, tragen weite weiße Kutten und weiße Spitzhauben, die ihre Gesichter bis auf zwei Augenschlitze komplett bedecken und traditionell ihre Anonymität wahren sollen. In den Händen halten sie große Kerzen, während sie zum Takt der Trommeln die Straße entlangschreiten. Die Szenerie ist schaurig, alle Zuschauer sind ganz still, der Strom der Nazarenos scheint gar nicht mehr abzureißen. Dann endlich, der erste der beiden Pasos, dahinter die Musikkappelle, darauf die zweite Gruppe der Nazarenos und schließlich der Höhepunkt, der zweite Paso mit dem Bildnis Marias.
Vereine für Büßer
Organisiert werden die Prozessionen von den über 50 Hermandades der Stadt, den Bruderschaften, die in Andalusien zum Teil schon seit Jahrhunderten existieren. Jedes Viertel hat seine eigene Hermandad, von dort starten die Umzüge jeweils auch. Ziel ist die Kathedrale von Sevilla, dann geht es wieder zurück ins Viertel. „Die Mitglieder verbringen Monate damit, sich auf die Prozession vorzubereiten. Sie putzen und schmücken die Pasos, sie üben das Tragen“, erzählt Prof. Dr. Schwab, die selbst mehr als zwei Jahre in Sevilla gelebt hat. „Dementsprechend schlimm ist es für sie, wenn es regnet: Dann wird die Prozession abgesagt, weil die Marienfiguren zum Teil hunderte von Jahren alt und einfach zu wertvoll sind.“ Findet der Umzug statt, dauert er meist zwischen fünf und 15 Stunden. Oft stehen die Frauen der überwiegend männlichen Teilnehmer an der Strecke und stecken ihnen Essen und Getränke zu. Emotional wird es, wenn zwischendurch eine Saeta, ein religiöses Klagelied, erklingt: Die Sängerinnen und Sänger stehen meistens auf Balkonen entlang der Strecke und halten mit ihrem Auftritt für einige Minuten die Zeit an – niemand bewegt sich, alle lauschen andächtig.
Bei den Prozessionen gibt es eine strenge Rollenverteilung: Neben den Nazarenos, den unheimlich wirkenden Kapuzenmännern, gibt es noch die Penitentes, die ebenfalls als Büßer ein Holzkreuz auf ihren Schultern tragen, sowie die Costaleros, die die schweren Pasos stemmen. Bis vor einigen Jahren war es Frauen nicht erlaubt, in eine der Rollen zu schlüpfen, inzwischen öffnen sich jedoch immer mehr Bruderschaften dafür – was im späten Mittelalter undenkbar gewesen wäre. Damals war es einer der Hauptzwecke der Vereinigungen, öffentlich Buße zu tun, oft auch als Selbstgeißelung. Um diese Praxis in geordnete Bahnen zu lenken, stellte Kardinal Fernando Nino de Guevara 1604 Regeln für die Hermandades auf, etwa die Route zur und durch die Kathedrale Sevillas. Etwa zeitgleich beschließt die katholische Kirche zudem, Prozessionen zur Glaubensbelehrung des einfachen Volkes vermehrt zu nutzen. Bilder statt Bibeltexte – das Konzept der Semana Santa war geboren.
Erinnerungen an die eigene Familiengeschichte
Doch wie ist das 2022? Sind die Menschen immer noch so fromm, dass sie öffentlich Buße tun möchten? Und dass hunderttausende Zuschauer stundenlang warten, um ihnen dabei zuzusehen? „Die älteren Sevillaner sind schon sehr religiös, aber den jüngeren geht es vor allem um lokale Identität, um die Teilnahme an einem lokalen Event – wie beim Kölner Karneval oder beim Oktoberfest in München“, sagt Prof. Dr. Schwab. „In Spanien gibt es wenig Mobilität, die Menschen leben meistens an ihrem Geburtsort und haben daher eine enge Bindung zu den Festen vor Ort.“ Das geht so weit, dass die Marienfiguren aus einigen Vierteln Sevillas richtige Fanlager haben. Die Familie spielt bei alldem eine wichtige Rolle: ihre Geschichten, Traditionen, Erinnerungen – das alles ist in Spanien wichtiger als etwa in Deutschland. „Die Semana Santa ist für die Sevillaner ein ganz intensives sinnliches Ereignis, das an die eigene Biografie und bestimmte Orte in der Stadt geknüpft ist. Das kann zum Beispiel eine Brücke sein, auf der man sich früher mit dem Opa die Prozessionen angesehen hat. Und jetzt geht man mit den eigenen Kindern hin und denkt dabei an den Großvater“, berichtet die Professorin, die an der Ludwig-Maximilians-Universität in München forscht und lehrt.
So individuell die Bedeutung der Semana Santa für die Sevillaner ist, so kommerzialisiert ist die heilige Woche inzwischen auch. Die Hotels der Stadt sind ausgebucht, Fernsehsender haben ihre Kameras aufgebaut und die Tickets für die Tribüne an der Kathedrale sind längst vergeben. Die Souvenirläden verkaufen allerlei Fanartikel wie Poster, Aufkleber, Figuren oder Kuchen. „Das kaufen tatsächlich auch die Einheimischen. Viele haben kleine Abbildungen von Marienfiguren als Glücksbringer in ihren Geldbörsen drin, auch junge Leute“, sagt Christiane Schwab. Damit die Zuschauer bei all den verschiedenen Bruderschaften den Überblick behalten, gibt die Stadt zudem Heftchen mit Terminen, Routen und weiteren Informationen heraus.
Nächtlicher Jubel für die Muttergottes
Wann die Semana Santa in Sevilla so groß geworden ist, weiß man heute gar nicht mehr so genau. „Die ersten Bilder stammen aus dem 19. Jahrhundert, zu der Zeit kam auch der Tourismus auf. Die Prozessionen in Sevilla galten schon damals als besonders prachtvoll und haben Menschen aus anderen Ecken Andalusiens und sogar aus dem Ausland angezogen“, berichtet Prof. Dr. Schwab. Und so sei es immer weitergegangen: Das Volkstümliche wurde exotisch, es gab immer mehr Fotos und Postkarten, irgendwann auch Filme – und die einheimische Bevölkerung wurde sich der Tradition ihrer Stadt mehr und mehr bewusst. Ein Selbstläufer, den das spanische Tourismusministerium 1980 zur „Feierlichkeit von internationalem touristischen Interesse“ erklärte.
Es ist inzwischen Nacht an diesem Gründonnerstag – und jene Nacht ist die wichtigste der gesamten Semana Santa. Denn dann ziehen die ältesten Bruderschaften durch die Stadt. Zum Beispiel die Hermandad de la Macarena. 1595 gegründet, 15.000 Mitglieder, 3300 Nazarenos. Als der Paso mit der Muttergottes die heimische Basilika im Viertel Macarena verlässt, jubelt und klatscht die Menschenmasse, Tränen werden aus den Augen gewischt und Handys zum Fotografieren in die Höhe gehalten. Dazu spielt die Musikkappelle einen feierlichen Marsch mit Trommeln und Trompeten, als fände gerade ein Staatsbesuch statt. Dazwischen immer wieder Applaus und Rufe mit Anweisungen für die 45 Träger des Pasos. Jedes Auf- und Absetzen wird mit dem begeisterten Klatschen der Zuschauer begleitet. Es ist der Auftakt einer Reise durch die Straßen der Stadt, die erst endet, wenn es längst wieder hell ist.
Außerdem wissenswert:
2020 und 2021 fanden pandemiebedingt keine Prozessionen statt. Nach aktuellem Stand könnte die nächste Semana Santa vom 10. bis 17. April 2022 wie gewohnt gefeiert werden.
Nicht alle Sevillaner lieben die Semana Santa: Manche Einwohner verlassen während des Events die Stadt, weil ihnen der Trubel zu viel ist – vielleicht eine weitere Gemeinsamkeit mit Karneval und Oktoberfest.
Einmaliger Einsatz: Die berühmten Mantillas, die Haarkämme mit Schleier, tragen die Sevillanerinnen nur am Gründonnerstag.
So fromm die Mitglieder der Bruderschaften auch sind: Unterjährig widmen sie sich nicht nur der Religion. Sie engagieren sich für gemeinnützige Projekte, organisieren kulturelle Veranstaltungen oder bieten Ausflüge an.
Während die Bruderschaften heute ein Stadtviertel repräsentieren, waren sie früher Vereinigungen bestimmter Berufsgruppen.