„Wir sind keine abgefahrenen Superhelden!“
Schwärme von Clownfischen, Schildkröten und ein Mantarochen tummeln sich zwischen den Korallen. Die Sonne lässt das Riff und seine Bewohner in bunten Farben schillern. Ein Tauchgang wie aus dem Bilderbuch, den Christa und ihr Mann Wolfgang, erfahrene Taucher aus Augsburg, in vollen Zügen genießen.
Mit der Coral Expedition II sind die beiden Rentner Richtung nördliches äußeres Great Barrier Reef unterwegs. Bei einem Tauchgang vor einer unbewohnten Insel in der Nähe von Lizard Island spürt Christa plötzlich einen Stich in der Brust. Von einer Sekunde auf die andere verwandelt sich die herrliche Unterwasserwelt in ein Horrorszenario. Akute Atemnot versetzt die 67-Jährige in Panik. Mit Zeichen macht sie ihren Mann darauf aufmerksam, dass etwas nicht stimmt. „Ich dachte, ich muss ersticken“, erzählt Christa. „Da ist es gar nicht so leicht, entspannt zu bleiben und vor allem langsam aufzutauchen.“ Wolfgang begleitet sie an die Wasseroberfläche und winkt Hilfe herbei – ein Besatzungsmitglied ihres Schiffes hievt Christa an Deck.
Doch auch nachdem Wolfgang seiner Frau Taucherbrille und Atemmaske abgenommen hat, ringt Christa verzweifelt um Luft und fühlt immer noch Schmerzen im Brustkorb. Der Kapitän fackelt nicht lange. Per Funk verständigt er den Royal Flying Doctor Service (RFDS): Verdacht auf Herzinfarkt. Auf dem Wasser kann der Pilot nicht landen und die Patientin abholen. Also bringt ein Beiboot das deutsche Ehepaar nach Lizard Island. Nicht einmal eine Stunde später liegt Christa auf einer Trage im Flugzeug, angehängt an eine Infusion. „Weil noch zwei andere Kranke an Bord waren, konnte mein Mann nicht mitfliegen“, erzählt sie. „Es gab keinen Platz für ihn.“
Planmäßig sollte an diesem Oktobertag keine Maschine mehr auf Lizard Island landen, die Wolfgang ins Krankenhaus nach Cairns zu seiner Frau bringen konnte. Doch die Australier sind Improvisationskünstler. So funkt der Pilot kurzerhand einen Kollegen an und bittet ihn, einen Zwischenstopp auf der Insel einzulegen. Eine Selbstverständlichkeit in Down Under, auch wenn der Umweg eine Stunde extra kostet.
Ohne den Royal Flying Doctor Service würden so mancher Herzinfarkt, aber auch Frühgeburten, Infektionen oder Unfälle nicht so glimpflich ausgehen. Touristen wie Einheimische profitieren von der ärztlichen Versorgung aus der Luft, vor allem in den dünn besiedelten oder schwer zugänglichen Regionen des fünften Kontinents.
Die Idee dazu hatte John Flynn 1928. Der Pfarrer wollte nicht länger akzeptieren, dass Wundinfektionen oder Blinddarmentzündungen tödlich endeten, nur weil im Outback Medikamente fehlten, kein Arzt in der Nähe war oder der Krankentransport zu lange dauerte. Zunächst eröffnete er einige Buschkrankenhäuser, doch mit fortschreitender Technik setzte er auf Flugzeuge, die die gigantischen Entfernungen am besten bewältigen konnten.
Heute verfügt der RFDS über eine moderne Flotte von 69 Flugzeugen, die an 21 Standorten im ganzen Land stationiert sind. Sie decken ein Gebiet von über sieben Millionen Quadratkilometern ab. Nur drei Prozent der Bevölkerung lebt im australischen Outback, obwohl es über 90 Prozent der Fläche ausmacht. Gerade für die Menschen in diesen dünn besiedelten Gegenden ist der RFDS die einzige Hoffnung auf medizinische Versorgung. Sie klammern sich an die Garantie, dass jeder Ort in Australien innerhalb von zwei Stunden angeflogen werden kann.
Zu den über 1100 Mitarbeitern gehören auch der Pilot Brett Croker und der deutsche Arzt Dr. Peter Brendt. Beide arbeiten in der Kleinstadt Dubbo, etwa 400 Kilometer nordwestlich von Sydney. Schon als Kind hat Croker, inspiriert durch die Fernsehserie „The Flying Doctors“ aus den 1980er Jahren, nur einen Berufswunsch: Pilot bei der gemeinnützigen Organisation zu werden.
Mit 19 wird Croker tatsächlich Pilot, aber erst mit 35 Jahren schafft er den Sprung zu den Flying Doctors. „Die Anforderungen sind sehr hoch“, sagt er. „Sehr viel höher als bei großen Airlines wie Qantas zum Beispiel. Aber das ist auch gut so. Wir kommen immer wieder in Extremsituationen, die man ohne Erfahrung kaum bewältigen kann.“
Die zweimotorige, 14 Meter lange Beechcraft, Crokers Arbeitsgerät, wiegt fünf Tonnen und gilt derzeit als das größte Flugzeug weltweit, das ein einzelner Pilot fliegen darf. Heftige Gewitterstürme oder plötzlichen Nebel meistert er ebenso wie den dichten Flugverkehr über Metropolen wie Sydney oder Pisten mit Schlaglöchern, auf denen sich Wildtiere tummeln.
Vor jeder Landung findet der sogenannte „Roo-Run“ statt – ein Känguru-Check. Erst, wenn der Pilot von unten das Okay bekommt, dass sich keine Kängurus in der Nähe befinden, landet er. Selten kommt es dennoch zu Zusammenstößen mit den Beuteltieren, die lebensgefährlich sein und das beschädigte Flugzeug wochenlang lahmlegen können.
Neben fliegerischem Können ist psychische Belastbarkeit gefragt. „Wir müssen manchmal brutale Entscheidungen treffen“, erläutert Croker. „Wenn das Wetter zu schlecht ist, streichst du den Flug, um nicht das Leben der ganzen Crew zu riskieren. Nicht zu fliegen kann aber für den Patienten bedeuten, dass jede Hilfe zu spät kommt.“
Diesen Herausforderungen stellt sich auch der Anästhesist und Intensivmediziner Dr. Peter Brendt. Eigentlich wollte der Deutsche nur ein wenig Erfahrung im englischsprachigen Ausland sammeln. Mittlerweile ist er – mit einem kurzen Intermezzo zurück in der Heimat – seit fünf Jahren in Dubbo. „Mit der Arbeit eines deutschen Notarztes ist das hier nicht vergleichbar“, sagt er. „Während ich in Deutschland mit dem Rettungswagen innerhalb von Minuten vor Ort war, dauert es nun Stunden. Unser Einsatzgebiet kann man mit der Entfernung zwischen München und Hamburg vergleichen.“
Die Entfernung ist es auch, die die Ärzte des RFDS zu außergewöhnlichen Eingriffen zwingt. Einmal kam Dr. Brendt zu einem schweren Unfall, bei dem der Fahrer aus seinem Auto geschleudert wurde. „Er hatte mehrere Frakturen im Gesicht“, erinnert sich der 46-Jährige. „Nachdem ich die Atemwege gesichert hatte, stellte ich einen enorm gestiegenen Druck in der Augenhöhle fest. Das schädigt den Sehnerv und der Patient kann erblinden.“
Dr. Brendt ist klar, dass er sofort handeln muss, wenn er das Augenlicht des Mannes retten will. Er kontaktiert einen Spezialisten in Sydney, der ihn per Videoanruf bei der lateralen Kanthotomie unterstützt. Dabei setzt der Arzt einen Schnitt am Rand des Auges und durchtrennt eine Sehne direkt unter dem Augapfel. „Zum Glück bekam der Verletzte nicht mit, dass ich einen solchen Eingriff noch nie zuvor gemacht hatte“, grinst Dr. Brendt. „Und ja, der Mann hat nicht nur den Unfall überlebt – er kann immer noch sehen!“
Als einer der erfahrensten Ärzte im Team ist der deutsche Arzt nicht nur selbst im Einsatz, sondern bildet auch junge Kollegen aus. Das nagelneue „Visitor and Education Center“ in Dubbo ist dafür der perfekte Ort. Die hochmoderne Ausstattung ergänzen ganz praktische Übungshilfen wie mit Yogamatten umwickelte Schaufensterpuppen. An denen können die Mediziner Schnitte mit dem Skalpell trainieren, die sie im Ernstfall bei Verbrennungsopfern anwenden. Oder sie stoppen simulierte Blutungen und werden auf Geburtshilfe vorbereitet.
Auch Brett Croker ist vom neuen Ausbildungscenter begeistert. Denn hier können die Piloten Extremsituationen trainieren. Dass die im realen Einsatz immer wieder vorkommen, weiß der 44-Jährige nur zu gut. Niemals vergessen wird er die dramatische Rettung eines Neugeborenen, das in dem 3000-Seelen-Ort Tenterfield einige Wochen zu früh auf die Welt kam.
„Per Notruf erfuhren wir, dass das Baby Probleme mit dem Atmen hatte“, erinnert sich Croker. „Normalerweise hätten wir die kleine Patientin nach Sydney geflogen. Aber in dieser Nacht war am Himmel die Hölle los.“ Heftige Gewitter mit extremen Windböen fegten über New South Wales und Queensland hinweg. Erst wurde der Flughafen in Sydney und schließlich auch der in Brisbane geschlossen. „Wir hatten ein Neugeborenes in sehr kritischem Zustand an Bord und seine Mutter, die dem Nervenzusammenbruch nahe war. Aber wir hatten keine Möglichkeit, Städte mit Intensivstationen für Neugeborene anzufliegen.“
Croker entscheidet sich für eine Landung in Toowoomba. Die restlichen rund 100 Kilometer nach Brisbane sollte das Baby dann im Krankenwagen transportiert werden. „Wenn der Flughafen in Toowoomba wegen des schlechten Wetters auch noch geschlossen worden wäre, hätten wir riesige Probleme mit dem Treibstoff bekommen.“ Starkregen, der Sturm und eine extrem kurze Landebahn erfordern das ganze Können des Piloten. „Ich schaltete die Lichter im Cockpit und sogar die Außenbeleuchtung aus, damit ich eine bessere Chance hatte, die Befeuerung der Landebahn zu sehen. Das Flugzeug wurde heftig hin- und hergeschüttelt – zum Glück verschlief mein jüngster Passagier die ganze Aufregung.“ Nach der Landung fiel die kreidebleiche Mutter Croker mit den Worten um den Hals: „Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Angst.“
2018 feierte der Royal Flying Doctor Service sein 90-jähriges Bestehen. „Es ist unser Job, möglichst viele Menschenleben zu retten“, sagt Dr. Brendt. „Wir sind deshalb aber noch lange keine abgefahrenen Helden.“ Oh doch, finden Touristen wie Christa, die beim Tauchen in Schwierigkeiten geraten, oder Schwerverletzte bei einem Unfall oder Mütter mit ihren neugeborenen Babys.