Pompeji – ein Ort der Begegnung
Seit über drei Jahren ist Dr. Gabriel Zuchtriegel Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji. Massiver Widerstand am Anfang, spektakuläre Neuentdeckungen, innovative Ideen sowie der Einsatz von smarter Technologie kennzeichnen seine bisherige Amtszeit.
Ausgestattet mit Overalls, Handschuhen, Helmen und Stirnlampen versammelt sich ein Team von Archäologinnen und Archäologen in Civita Giuliana. Wie die gesamte Umgebung ist der etwa 700 Meter nördlich von Pompeji gelegene Ausgrabungsort reich an Relikten aus der Antike. An jenem 28. Juli 2021 findet keine normale Ausgrabung statt. Mit Hilfe der Wissenschaftler will Staatsanwalt Nunzio Fragliasso, der für Pompeji und benachbarte Ausgrabungsstätten wie Civita Giuliana zuständig ist, Raubgräbern das Handwerk legen.
Unter Polizeischutz und unterstützt von der Feuerwehr kriechen die Archäologen teils auf allen Vieren durch ein illegales unterirdisches Tunnelsystem, um es professionell zu erkunden. Kriminelle haben es außerhalb des bewachten Archäologieparks angelegt, um sich so unentdeckt in verschüttete Gebäude vorzuarbeiten und antike Schätze zu erbeuten. Die Zerstörungen, die sie hinterlassen, seien immens, sagt Direktor Dr. Zuchtriegel und wischt sich Staub und Schweiß aus dem Gesicht. Trotz vieler organisatorischer Verpflichtungen ist der 43-Jährige bei diesem Lokaltermin dabei. „Raubgräber arbeiten ohne Rücksicht auf Verluste“, führt er aus.
„Im Gegensatz zu ihnen besteht für die Archäologie der Gewinn der Funde nicht in ihrem Marktwert, sondern in dem Kenntniszuwachs, den sie uns verschaffen.“ Wo es in dem Tunnelsystem zu eng oder wegen Einsturzgefahr lebensgefährlich wird, kommt „Spot“ zum Einsatz. Der Roboterhund in der Größe eines Golden Retrievers trippelt sicher über jede Unebenheit, scannt dabei Wände und Wege. Sein starker Scheinwerfer bringt Licht in die dunklen Gänge und ermöglicht den auf ihm montierten 360-Grad-Kameras, wertvolle Daten an die Archäologen zu übermitteln. Wenn der knallgelb lackierte Helfer gerade nicht in den Tunneln der Raubgräber unterwegs ist, patrouilliert er zusammen mit der Drohne „Leica“ durch die Straßen Pompejis und liefert permanent 3D-Scans. „Beide sind Teil des Projekts Smart@Pompeii“, erklärt Zuchtriegel. „Mit Hilfe moderner Technologien wollen wir den Archäologischen Park intelligenter und nachhaltiger gestalten.“
Das 66 Hektar große Areal zählt zu den wichtigsten Ausgrabungsstätten weltweit. Das Schicksal der römischen Handelsstadt wird im Jahr 79 nach Christus an zwei aufeinanderfolgenden Tagen besiegelt. Nach der ersten Eruption des Vesuvs ahnen die Bewohner zunächst nicht, dass ihnen eine nie dagewesene Katastrophe bevorsteht. Asche und Bimssteine prasseln auf Häuser, Straßen und Menschen nieder. Einige schaffen es zu fliehen, andere ersticken oder werden durch herabfallendes Gestein erschlagen. Als noch verheerender entpuppt sich der zweite Ausbruch am nächsten Tag. Sogenannte pyroklastische Ströme, bestehend aus Gasen, Asche und Gestein, rasen mit einer unglaublich hohen Geschwindigkeit von bis zu 700 Stundenkilometern den Hang des Vesuvs hinab und treffen Pompeji mit voller Wucht. Die Stadt und das Umland verschwinden in kürzester Zeit unter einer Schicht aus heißer Asche und Gestein. Die meisten Menschen, die dem Inferno bis zu diesem Zeitpunkt entkommen konnten, sterben entweder durch die extreme Hitze oder durch die giftigen Gase.
Die bis zu sechs Meter hohe Ascheschicht bringt Tod und Leid – für die Nachwelt ist sie allerdings ein makabrer Glücksfall, denn sie konserviert den Alltag, wie er im Jahr 79 nach Christus üblich war. Wohnräume, Ställe, Bordelle, Bäckereien, Brote im Ofen und Töpfe auf dem Herd, ungemachte Betten, Kleidung, Menschen und Tiere sind Teil dieses „Schnappschusses“ der Antike. Fast täglich kommt Gabriel Zuchtriegel mit den Spuren der Katastrophe in Berührung. „Würde ich es schätzen, wenn mein Körper im Moment des Todeskampfs konserviert und dann öffentlich präsentiert wird?“, fragt er sich. „Oder verschaffen wir den Opfern Gehör und Gerechtigkeit, indem wir dazu beitragen, dass die Nachwelt sich an sie erinnert?“
„Natürlich hat das, was wir heute finden, einen ungeheuerlichen Wert. Nicht, weil es so anders ist als das bisher Gefundene, auch wenn kein Haus wirklich dem anderen gleicht. Der große Wert besteht darin, dass wir heute diese Funde und Befunde mit Methoden untersuchen können, die es vor 100 oder 50 und in manchen Fällen vor zehn Jahren noch nicht gab.“ Gabriel Zuchtriegel
Um den „schönsten Job der Welt für einen Archäologen“ handele es sich, betont Italiens Kulturminister Dario Franceschini, als er im Februar 2021 den in Deutschland geborenen Gabriel Zuchtriegel zum Direktor von Pompeji ernennt. In seinem Bestseller über Pompeji „Vom Zauber des Untergangs“ schildert dieser den Moment, als das Telefon klingelt und sich das Sekretariat des Kultusministers meldet. „Sicher, dass die mich meinen?“, fragte er sich damals, doch andererseits: Eine Absage würde eher schriftlich als telefonisch erfolgen, oder? Von Anfang an sieht er: „Pompeji ist eine riesige Herausforderung für den Denkmalschutz und darüber hinaus eine Verantwortung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird wie ein zerbrechliches Erbstück.“ Trotz der großen Bürde habe sich die Zusage angefühlt, „als sei ich Papst geworden.“
Doch die ersten Monate im Amt sind alles andere als himmlisch. Noch am Tag der offiziellen Ernennung treten zwei Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats aus Protest zurück. In ihrem Rücktrittsschreiben argumentieren Irene Bragantini und Stefano De Caro, dass Zuchtriegel mit seinen damals 39 Jahren nicht über die nötige Erfahrung für die Leitung von Pompeji verfüge und eine Zusammenarbeit daher unmöglich sei. Weitere 112 internationale Experten – Archäologen, Architekten und Kunsthistoriker – verfassen eine Petition gegen seine Ernennung. Die Unterzeichner kritisieren ebenfalls Zuchtriegels mangelnde Erfahrung und befürchten, dass er den Park nach wirtschaftlichen und nicht nach wissenschaftlichen Aspekten führen wird. Entrüstet reagieren viele Italiener, dass ein Deutscher den wichtigsten Archäologenposten in ihrer Heimat erhält. Dabei ignorieren seine Kritiker, dass er einige Monate zuvor zusätzlich die italienische Staatsbürgerschaft angenommen hatte – nicht aus beruflichem Kalkül, sondern um seine tiefe Verbundenheit mit dem Land und seiner Kultur zu zeigen. Über den Tag, als er Italiener wurde, sagt er: „Er war einer der schönsten und bewegendsten in meinem Leben.“
„Sehr viele Menschen, die in der Umgebung leben, haben keinerlei Bezug zu ‚ihrem‘ Erbe.“ Gabriel Zuchtriegel
Gleich mit dem ersten Projekt „Sogno di Volare“ (Traum vom Fliegen) provoziert der junge Direktor weiteren Widerstand. „Statt sich auf Archäologie zu konzentrieren, initiiert er in dem großen Amphitheater eine Theateraufführung?“, lautet ein Kommentar, und ein weiterer: „Ausgerechnet mit unterprivilegierten Jugendlichen aus der Peripherie Neapels als Schauspielern?“ Zuchtriegel zuckt mit den Schultern und lässt sich nicht beirren: „Sehr viele Menschen, die in der Umgebung leben, haben keinerlei Bezug zu ‚ihrem‘ Erbe“, sagt er. „Sie sehen Pompeji als eine Art Ufo, das wenig bis nichts mit ihrer Realität zu tun hat. Das möchte ich ändern.“
Rund 80 Jugendliche aus den lokalen Schulen in Pompeji und Torre del Greco erklären sich bereit, an dem Theaterprojekt mitzuwirken. Sie treten nicht nur als Schauspieler auf, sondern beeinflussen auch die Inszenierung maßgeblich. Proben unter professioneller Anleitung und vertiefende Workshops helfen den jungen Teilnehmern, nicht nur schauspielerische Fähigkeiten, sondern auch ein Verständnis für das kulturelle Erbe Pompejis zu entwickeln. Zuchtriegel erhofft sich einen Multiplikationseffekt, indem die Begeisterung der Jugendlichen ihre Familien und Freunde ansteckt. Und tatsächlich kommen Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel, die nie zuvor ein Theater besucht haben, zur ausverkauften Premiere.
Der Direktor von Pompeji hat damit ein Ziel erreicht, dass bei ihm höchste Priorität genießt: „Museen sind nicht einfach Orte, an denen Menschen dank Beschriftungen und Apps Verbindungen zwischen Objekten herstellen, sondern Räume, wo Objekte Verbindungen zwischen Menschen schaffen. Pompeji als Ort der Begegnung zwischen Menschen. Ein besonderer Coup gelingt ihm, indem er Madonna für sein Theaterprojekt begeistern kann. Der US-Popstar feierte im August 2024 seinen 66. Geburtstag in der Ruinenstadt, lernte die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler kennen und finanziert nun die Saison 2024/25. Aufführungen sind im Theater von Pompeji sowie in mehreren norditalienischen Städten geplant.
Auch die Idee, die antike Landschaft in und um Pompeji mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung wieder zu nutzen, erweist sich als Volltreffer. Mehr und mehr bekommen die Menschen, die im modernen Pompeji und dessen Umgebung leben, das Gefühl, auch Teil des antiken Pompeji zu sein. Schulklassen pflanzen Bäume, lokale Bauern produzieren nach alten Methoden Wein und Olivenöl und verkaufen ihre Produkte. Ihre Schafe übernehmen das Mähen der Rasenflächen und helfen so bei der Pflege der UNESCO-Welterbestätte.
Sensationelle Entdeckungen unter der Leitung Zuchtriegels lassen die Kritiker zunehmend verstummen. Er ist u. a. für die Ausgrabung eines Thermopoliums – heute würde man Fast-Food-Laden dazu sagen – oder eines Speisezimmers mit Fresken, die Helena von Troia, Apollo und Zeus darstellen, verantwortlich. Ausgrabungen in der Nekropolis an der Porta Sarno bringen einen weiteren herausragenden Fund zum Vorschein: das Grab des Marcus Venerius Secundio inklusive gut erhaltener Haare und einem Ohr. Die Grabkammer des freigelassenen Sklaven war hermetisch versiegelt und sein Körper teilweise mumifiziert, was den Zerfall des Leichnams verhinderte.
Archäologenteams aus aller Welt forschen derzeit an verschiedenen Stellen in Pompeji. „Zwei Drittel der Stadt sind bisher freigelegt“, sagt der Direktor. „Aktuell graben wir auf 9000 Quadratmetern – seit 60 Jahren wurde nicht auf so einer großen Fläche gearbeitet.“ Dabei gehe es hauptsächlich darum, zu restaurieren und zu erhalten und nicht darum, ständig etwas Neues zu entdecken und möglichst großflächig weiterzugraben. „Pompeji besteht aus 13.000 Räumen. Diese müssen wir systematisch unter Kontrolle behalten und Prioritäten festlegen.“
Aufgrund des Klimawandels ist Pompeji öfter als in der Vergangenheit Wetterextremen ausgesetzt, die die Jahrtausende alten Strukturen erheblich belasten und beschädigen. Mit Hilfe von Satellitendaten sowie dem Einsatz von Infrarot-Technologien, Drohnen und des „Geographic Information Systems“ (GIS), das Kartendaten mit Datenbanken abgleicht, will Zuchtriegel gegen den Verfall kämpfen. „Darüber hinaus sind präventive Maßnahmen wichtig“, betont er. „Mein Team arbeitet kontinuierlich an der Pflege, Sicherung und dem Schutz der Stätte.“
Apropos Schutz: An jenem 28. Juli erkundet das archäologische Team von Pompeji im Auftrag der Staatsanwaltschaft das illegale Tunnelsystem, um zukünftig Relikte aus der Antike vor Raubgräbern zu schützen. Auf frischer Tat ertappen sie niemanden. Aber für Zuchtriegel bringt dieser Tag die bislang spektakulärste Entdeckung seiner noch jungen Karriere: ein bemerkenswert gut erhaltenes Sklavenzimmer in der Villa von Civita Giuliana. Wertvoll deshalb, weil es einen seltenen Einblick in das Leben derjenigen bietet, die in historischen Aufzeichnungen oft unsichtbar bleiben – die versklavten Menschen. Für Zuchtriegel wertvoller als der vollständig erhaltene griechische Tempel, den er 2019 in Paestum ausgegraben hatte.
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Außerdem wissenswert:
Der Archäologiepark Pompeji ist eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten Italiens. An Spitzentagen strömten bisher bis zu 36.000 Menschen durch die Ruinen. Um das fragile UNESCO-Welterbe zu schützen und den Besuchern eine entspanntere Besichtigung zu ermöglichen, wurde Mitte November 2024 ein Besucherlimit von 20.000 Personen pro Tag eingeführt. Die gute Nachricht für Studiosus-Gäste: Sie müssen sich um nichts kümmern! Auf allen Reisen, bei denen der Besuch der Ausgrabungsstätte vorgesehen ist, reserviert Studiosus rechtzeitig die Tickets, sodass einer Zeitreise in die Antike nichts im Wege steht.
Gabriel Zuchtriegel studierte Klassische Archäologie und griechische Literaturgeschichte in Berlin und Rom und schloss sein Studium mit einer Dissertation über den antiken Ort Gabii ab. Er forschte und dozierte an den Universitäten Bonn, Matera, Neapel und Palermo, bevor er 2015 im Alter von nur 34 Jahren Direktor des Archäologischen Parks von Paestum wurde.
Mit modernen Methoden verbesserte er den Zustand der Stätte und deren Infrastruktur, förderte eine inklusive Nutzung für ein breites Publikum und steigerte die Besucherzahlen mit wirkungsvollen Marketingstrategien. Zuchtriegels Erfolg in Paestum spielte die zentrale Rolle bei seiner Auswahl als neuer Direktor von Pompeji.
Buchtipp: Gabriel Zuchtriegel, „Vom Zauber des Untergangs – Was Pompeji über uns erzählt“. Erschienen im Propyläen Verlag, 2023.