Milz to go
Es ist laut im Bauch von Palermo: Aus den Radios schmettern italienische Schlager, Autos hupen, Vespas knattern, Messerklingen sausen auf Schneidebretter, Männer preisen lautstark ihre Waren an. Melanzane! Pesci! Carciofi! Auf dem Ballaró-Markt in der sizilianischen Hauptstadt reiht sich ein Stand an den nächsten, und wer einen Blick nach oben wirft, vorbei an den bunten Markisen, sieht das alte Palermo. Bröckelnde Paläste, opulenter Barock, vorm Auseinanderfallen manchmal nur durch ein Netz geschützt. Es ist eng in den Gassen, alle Bevölkerungsschichten der 657.000 Einwohner kaufen hier ein. Staatsanwälte und Ärztinnen, Handwerker und Hausfrauen.
Drei Märkte voller Garküchen
Auf den Tischen und Theken türmt sich alles, was auf der Insel auf den Tisch kommt: Berge von Tomaten, Auberginen, Paprika. Tintenfische, Muscheln, Salami. Aber auch Lammköpfe für einen Euro, Kalbsdarm für 6,99. Dazwischen immer wieder Säcke mit getrockneten Linsen und Bohnen, aufgeschnittene Wassermelonen, kistenweise Pfirsiche und Körbe voller Orangen. Annette Kaiser ist seit über 15 Jahren als Studiosus-Reiseleiterin auf Sizilien unterwegs und liebt es, dort in die Märkte einzutauchen: „Es ist alles sehr frisch und appetitlich, an den Gewürzständen duftet es nach Oregano und es gibt viele Gemüse, die wir in Deutschland gar nicht kennen, etwa kugelige Auberginen oder besonders lange Zucchini.“
Genau genommen hat Palermo nicht nur einen Bauch, sondern mehrere: Neben dem Ballaró gibt es unter anderem die Märkte von Capo und Vucciria. Was die drei so besonders macht? Zusätzlich zu all den frischen Zutaten, die die Palermitaner für das Mittag- und Abendessen einkaufen, gibt es hier traditionelles Essen direkt auf die Hand. Garküchen mischen sich zwischen die Stände, es wird auf offenem Feuer gegrillt, in großen Kesseln frittiert und in Blechtöpfen gerührt. Und das schon lange, bevor es den Begriff Streetfood gab.
Alles verwerten, um den Hunger zu stillen
Foodblogs, Foodporn, Superfood: Seit Essen vor einigen Jahren zu einem Lifestyle-Trend geworden ist, hat sich auch ein regelrechter Streetfood-Hype entwickelt. Was früher die schnöde Bratwurst im Brötchen oder der Döner vom Imbiss um die Ecke war, ist jetzt hip: Rund um den Globus posten Menschen in den sozialen Netzwerken Fotos von Leckereien to go. Zwischen Bangkoks Garküchen und den legendären New Yorker Foodtrucks erobert dabei eine Stadt immer mehr Foodie-Herzen: Palermo. Bereits 2012 hat das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ die sizilianische Hauptstadt in seinem Ranking „The World's Top 10 Cities For Street Food“ mit dem fünften Platz bedacht.
Streetfood hat in Palermo Tradition – und einen ernsten Hintergrund: „Im Grunde ist das eine Arme-Leute-Küche, die verfeinert wurde“, sagt Studiosus-Reiseleiterin Annette Kaiser. Schon lange ist Italien in einen reichen Norden und einen armen Süden geteilt – das zeigt sich auch in der Ernährung. „Das Essen auf Palermos Märkten ist sehr günstig. Auch weil alles verwertet wird. Das, was wir in Deutschland und anderen wohlhabenden Regionen vielleicht aus Unwissen wegwerfen, landet auf Sizilien im Kochtopf – in Hinblick auf Nachhaltigkeit übrigens sehr vorbildlich.“
Ein Sandwich mit Fans auf der ganzen Welt
Ein Klassiker der palermitanischen Garküchen: gebratene Milz. Sie wird in dünne Scheiben geschnitten, ähnlich wie Roastbeef, mit Limette beträufelt und in einem Sesambrötchen serviert. Die Pani Ca‘ Meusa, wie die Milzbrötchen im Original heißen, haben inzwischen weltweit Fans: „Dieses typische Milzbrötchen aus Palermo schlägt meinem Geschmack nach fast jeden Fastfood-Burger“, jubelt ein Nutzer auf Tripadvisor. Ein anderer schreibt: „Ein Muss in Palermo!“ Und selbst das Gourmetmagazin „Falstaff“ empfiehlt das traditionelle Sandwich. Angesichts des Ursprungs eine erstaunliche Entwicklung.
„Unser Busfahrer, ein echter Palermitaner, kann sich noch gut daran erinnern, wie früher die Männer abends von den Baustellen auf die Märkte gingen und mit einem Milzbrötchen und einer Flasche Messina-Bier den Feierabend einläuteten“, sagt Annette Kaiser. Milz galt einst als Sattmacher für Menschen mit wenig Geld – ebenso wie die Aubergine, die als „Schnitzel des armen Mannes“ bezeichnet wurde und heute immer noch überall auf den Märkten zu finden ist.
Ein Markt für das Partyvolk
Was gibt es in Palermo sonst noch auf die Hand? Zum Beispiel Zunge mit Zitrone und Salz, kleine Seeigel mit Brot, oder Arancini, frittierte Reisbällchen. Im Brötchen kommt auch Pansen daher, und Niere wird mit Zitrone, Karotten und Sellerie zum Löffeln serviert. Und der Favorit der Studiosus-Reiseleiterin? „Es schmeckt alles sehr gut, aber ich persönlich mag am liebsten Panelle, das sind frittierte Fladen aus Kichererbsenmehl. Daran zeigt sich übrigens auch der arabische Einfluss auf Siziliens Kultur. Lecker sind auch marinierte oder gegrillte Artischocken, die aber viel kleiner sind als die Exemplare in deutschen Supermärkten.“
Während auf den Märkten Ballaró und Capo morgens und vormittags die beste Zeit für einen kulinarischen Streifzug ist, geht es in Vucciria erst abends richtig los. Der Markt gilt als besonders hip und wird in zahlreichen Reiseführern empfohlen. „Das sind eigentlich viele kleine Restaurants, in einer nur fünf Meter breiten Straße. Aber alles spielt sich draußen ab: Jeder stellt Holztische raus und fährt die Markise aus, sodass eine gleichzeitig coole und kuschelige Atmosphäre entsteht. Vor allem am Wochenende ist dort bis spätnachts die Hölle los“, erzählt Annette Kaiser und lacht: „Es ist laut, es ist wild, es ist einfach großartig. Ich bin dort sehr gerne unterwegs – auch wenn ich den Altersdurchschnitt hebe.“
Kulinarische Kreativität in der Krise
Dass das Leben in Palermo so tobt, hat auch mit der Vergangenheit zu tun: „Die Jugend ist einfach sehr glücklich, dass die Stadt nachts nun sicher ist. Ausgehen war früher wegen der Mafia kaum möglich, aber jetzt ist die Lebensfreude zurück. Dazu dieses riesige Kulturangebot, die alten Paläste, die bröckelnden Fassaden – das hat einfach Grandezza“, schwärmt Kaiser.
Ganz aktuell hat die Reiseleiterin in den Bars von Palermo übrigens beobachtet, dass die Einheimischen immer öfter die sogenannten Tagliere bestellen. Diese Vorspeisenteller sind vollgepackt mit Käse, Salami, Schinken, Oliven, Peperoni und Kapern, dazu gibt es etwas Brot und Wein – für nur acht bis zehn Euro pro Person. „Ich denke, das hat mit Corona zu tun. Viele Menschen müssen wegen der Krise sparen und können es sich nicht mehr leisten, groß essen zu gehen.“ Die Tagliere aber reichen für den ganzen Abend – eine kreative Lösung für schwierige Zeiten. „Ausgehen zum Festpreis“, nennt das Annette Kaiser, das sei gerade ziemlich angesagt in Palermo. Eine Warnung mit Augenzwinkern hat die Reiseleiterin jedoch noch parat: „Auf keinen Fall Wurst und Käse aufs Brot legen – das machen nur Deutsche.“