Lissabon: Stadt des Lichtes mit Schattenseiten
Morgens Yoga, mittags in den stylishen Food Court, nach der Arbeit zum Surfen: Lissabon ist eine der hippsten Städte Europas – und zieht Expats und Touristen aus der ganzen Welt an. Doch die Popularität der portugiesischen Hauptstadt hat auch negative Folgen.
New York, Dubai, Miami. Drei Städte, die vor Sehenswürdigkeiten nur so strotzen – und trotzdem ein portugiesisches Erfolgskonzept importiert haben: den Time Out Market. Das Original steht im Lissabonner Viertel Cais do Sodré, einst eine arme Hafengegend, heute eine angesagte Ausgehmeile. In den engen Straßen, zwischen bröckelnden Fassaden und restaurierten Altbauten, reihen sich Restaurants, Bars und Clubs aneinander. An manchen Abenden ist es dort so voll, dass man nicht einmal die namensgebende Farbe der Pink Street sieht, dem Epizentrum des Nachtlebens. Nur wenige Straßen weiter hält seit 1882 der gusseiserne Mercado da Ribeira die Stellung. Damals werden hier Fisch und Gemüse verkauft, doch Ende des 20. Jahrhunderts verwahrlost die Markthalle zunehmend.
Paradies für digitale Nomaden
Um das Gebäude zu retten, ruft die Stadtverwaltung zu einem Ideenwettbewerb auf – und die Redaktion der Lissabonner Ausgabe des international tätigen "Time Out“-Magazins gewinnt. Ihr Vorschlag: Essen und Kultur verbinden, alles sorgfältig ausgewählt und kuratiert von den Redakteuren des Stadtmagazins. Im Mai 2014 öffnet der Time Out Market seine Pforten und hat sofort Erfolg. Die Mischung aus Food Court und Veranstaltungsort kommt bei Einheimischen und Touristen hervorragend an. 25 Restaurants, sechs Kioske, sieben Bars, vier Läden, eine Kochschule, ein Co-Working-Space und eine Konzerthalle stehen den Besuchern offen. 2019 zählt der Markt über vier Millionen Gäste, die auf ihren Tabletts Hummer-Burger, Sushi-Tacos oder die Kreationen des Michelin-Stern-geadelten Starkochs Henrique Sá Pessoa von den Ständen zu den Tischen balancieren. Oder bei einem Workshop in die Ramen-Kochkunst hineinschnuppern und anschließend einem DJ lauschen.
„Lissabon ist seit einigen Jahren sehr hip. Schon in den frühen 2000er-Jahren gab es hier viel Street-Art und kreative Bars, vor allem im Viertel Bairro Alto“, sagt Fabian Balz, Studiosus-Länderexperte für Portugal. „Die Eröffnung des Time Out Marktes hat die Entwicklung dann noch verstärkt. Lissabon ist voller Ideen, ständig entsteht etwas Neues. Die Stadt wird deshalb gerne mit San Francisco oder sogar dem Silicon Valley verglichen, auch weil es eine große Tech-Community und viele Start-ups gibt.“ Die für Expats günstigen Lebenshaltungskosten, die Sonne und die Nähe zum Meer ziehen junge Kreative und digitale Nomaden aus der ganzen Welt an. In dem Co-Working-Space im Time Out Market gibt es sogar einen Surf-Shuttle zum Strand.
Alte Fabriken für junge Kreative
Eine weitere angesagte Adresse in Lissabon ist die Rua Rodrigues de Faria 103 im Viertel Alcântara, ganz in der Nähe der berühmten Hängebrücke Ponte 25 de Abril. Dort befindet sich das Areal der LX Factory, das kreative Zentrum der Hauptstadt. Auf dem 23.000 qm großen Fabrikgelände aus dem 19. Jahrhundert haben Filmemacher und Fotografen, Architekten und Werbeagenturen ihre Büros, und auch einen Co-Working-Space gibt es natürlich. Doch in den alten Hallen wird nicht nur gearbeitet: In den Räumen einer stillgelegten Druckerei serviert das Restaurant „Cantina“ neu interpretierte portugiesische Küche. Die Einrichtung stammt zum Teil noch aus dem Originalbetrieb von 1846, sodass sich Gäste in die Kantine von damals zurückversetzt fühlen. In einem Dutzend weiterer Restaurants dreht sich alles um New York Cheesecake, malaysisch-portugiesische Fusion-Küche oder „bullshit-free“ Hühnchen, wie der Betreiber verspricht. Wer mag, kann in der LX Factory auch durch verschiedene Concept Stores bummeln oder gleich im angeschlossenen Boutique Hostel übernachten. Auch hier schickt die Vergangenheit einen Gruß in die Gegenwart: Offene Backsteinwände, abgewetzte Holzdielen und Wellblechtüren treffen auf Skateboards, Lichtinstallationen und Designersofas. Direkt vor der Tür geht es über schmale Kopfsteinpflasterstraßen zu den verschiedenen Fabrikgebäuden, vorbei an Street-Art und Palmen. Man könnte den ganzen Tag in der LX Factory verbringen: vom zuckerfreien Frühstück zur Ausstellung, mit einem Zwischenstopp beim Yoga, dann ein kurzer Blick in die Surfschule, und nach dem Abendessen auf ein Konzert und in die Rooftop-Bar.
Visum gegen Immobilienkauf
„Lissabon hat noch andere spannende Ecken“, sagt Studiosus-Länderexperte Fabian Balz, „zum Beispiel gibt es das Village Underground, ein aus alten Bussen und Schiffscontainern bestehendes Kulturzentrum direkt neben der LX Factory. Auch das Viertel Marvila war früher von Industrie geprägt, heute eröffnen in den alten Gebäuden Craft-Bier-Brauereien, Cafés oder Event-Locations. Und mit dem Hub Criativo im Viertel Beato steht schon das nächste Großprojekt an.“ Ein beeindruckendes Angebot für eine Stadt, die nur knapp 600.000 Einwohner hat. Doch viele Lisboetas können es nicht genießen, im Gegenteil.
Denn das kreative Flair und die im europäischen Vergleich günstigen Preise ziehen auch viele ausländische Investoren an – befeuert durch eine Regelung der portugiesischen Regierung: Seit 2012 erhalten reiche Nicht-EU-Bürger eine Aufenthaltserlaubnis, das sogenannte „Goldene Visum“, wenn sie mit einem eigenen Unternehmen zehn Arbeitsplätze schaffen, Kapital direkt investieren oder eine Immobilie im Wert von mindestens 500.000 Euro kaufen. Fast alle entscheiden sich für die letzte Option – und treiben dadurch die Preise in die Höhe. Und auch Touristen haben Lissabons Schönheit und Coolness in den letzten Jahren immer mehr für sich entdeckt. Allein zwischen 2009 und 2019 hat sich die Zahl der Touristenankünfte in Portugal fast verdoppelt, in dem Jahr vor Corona kamen 27,9 Millionen Gäste.
Die Einheimischen verschwinden
Die Attraktivität Lissabons spült zwar Geld in die Kassen, das vor allem seit der Wirtschaftskrise Anfang der 2010er-Jahre sehr willkommen ist, doch gleichzeitig schafft sie neue Probleme. Es sind unzählige Touristenunterkünfte entstanden, vor allem die Nachfrage nach Ferienwohnungen in Lissabons Zentrum ist in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. Viele Hauseigentümer haben entsprechend umgesattelt – unterstützt von einem Gesetz, das 2012 auf Druck von EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds eingeführt wurde und die Kündigung alter Mietverträge ermöglicht, wenn das Gebäude umfassend saniert wird. Dazu kommen die Immobilienbesitzer mit „Goldenem Visum“, die ihre Wohnungen oder Häuser oft nicht selbst bewohnen, sondern lukrativ über Airbnb und ähnliche Plattformen vermieten. Die Folge: Einheimische mit geringem oder mittlerem Einkommen können sich die Miete nicht mehr leisten.
Vor allem die Alfama ist von dieser Entwicklung betroffen. Über die Hälfte der 18.000 Ferienwohnungen, die 2018 in Lissabon registriert waren, liegen in der Altstadt. Zum Vergleich: 2011 waren es nur 500 Ferienapartments. „Hier in meiner Straße wohnen nur noch neun von uns. Und davon gehen nur noch vier aus ihrer Wohnung raus, der Rest ist bettlägerig. Alle anderen Wohnungen in der Gegend werden an Touristen vermietet“, berichtet die Anwohnerin Magarida Lopes im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Auch alteingesessene Läden verschwinden mehr und mehr, dazu kommen Beschwerden über Touristen, die Lärm und Müll verursachen. Bürger werden aktiv Doch Lissabon wehrt sich gegen diese Probleme. So gibt es zahlreiche Vereine und Bündnisse, die sich für ihre Stadt einsetzen, vor allem rund um das Thema Wohnen. Aber auch andere Herausforderungen werden angepackt. Die städtische Initiative „Lojas com História“, auf Deutsch „Geschäfte mit Geschichte“, fördert alteingesessene Schneider und Goldschmiede, Cafés und Teehändler, indem sie die Mieten der Geschäftsräume subventioniert. Viele der Läden gibt es seit über 100 Jahren und werden auch heute noch mit Liebe zum Detail geführt. Auf ihrer Website stellen die Macher des Projekts jedes teilnehmende Geschäft vor – und machen deutlich, warum es ein Verlust ist, wenn die kleinen Betriebe der nächsten Zara-Filiale oder dem nächsten Boutique-Hotel weichen müssen.
Auch die Mitglieder von „Aqui Mora Gente“ möchten, dass ihre Heimat authentisch bleibt – und lebenswert. Der Name des Vereins ist eine Botschaft: „Hier leben Menschen“. Menschen, die Touristen und einheimische Partygänger dafür sensibilisieren wollen, dass die Stadt nicht nur Spielplatz, sondern auch Wohnort ist. Ihr Ziel: ein rücksichtsvolles Miteinander. Auf ihrer Website sammeln die Aktivisten Fotos und Videos von vermüllten Straßen und nächtlichen Ruhestörungen. Inzwischen gibt es sogar eine App, über die die Anwohner Probleme an die Stadtverwaltung melden können. Außerdem startet der Verein immer wieder Kampagnen im öffentlichen Raum und auf Social Media, um auf sein Anliegen aufmerksam zu machen. Die Corona-Pandemie hat Lissabon etwas Zeit zum Durchatmen verschafft. Aber wie geht es danach weiter? Neben den verschiedenen Projekten und Initiativen unternimmt auch die Politik einige Schritte. So hat die Stadtverwaltung die Übernachtungssteuer von einem auf zwei Euro pro Tag angehoben und die Vergabe von Lizenzen für Kurzzeitvermietungen im Zentrum gestoppt. Für ganz Portugal hat die Regierung 2019 ein „Programm für erschwingliche Mieten“ auf den Weg gebracht. Auch das umstrittene „Goldene Visum“ wird sich 2022 ändern, so werden etwa Immobilienkäufe in Lissabon, Porto und an der Küste nicht mehr anerkannt. Und das städtische Kulturunternehmen EGEAC sorgt dafür, dass alle Bezirke etwas vom bunten Lissabon haben und veranstaltet unter anderem an verschiedenen Orten das Festival „Lisboa na Rua“, das sich vor allem an Einheimische richtet. Es gibt sie also, die Hoffnung auf: „Ja, hier wohnen Menschen – aber Gäste sind willkommen.“