Japans Reinheitskult – Putzen als Lebensphilosophie

Die japanische Nation liebt es sauber. Denn Unreinheit und Unordnung – in Seele oder Körper – gelten als Quellen für Unglück, Krankheit und Misserfolg.

Japans Reinheitskult – Putzen als Lebensphilosophie

Noch bevor die Sonne über Tokio aufgeht, steht Hirayama auf. Einen Wecker braucht er nicht, denn das Fegen des Straßenkehrers beendet jeden Morgen seinen Schlaf. Hirayamas Job ist es, die öffentlichen Toiletten im Shibuya-Viertel zu reinigen – so jedenfalls erzählt es Wim Wenders in seinem Kinofilm „Perfect Days“. Dass Japan 2024 ausgerechnet diesen Film ins Rennen um den Oscar als bester internationaler Film schickte, zeigt, wie tief die Themen „Toilette“ und „Sauberkeit“ in der japanischen Kultur verwurzelt sind.

Japanische Fans räumen nach den Spielen ihrer Mannschaft bei der Fußball-WM in Katar 2022 die Stadionränge auf.
Die Bilder gingen um die Welt, als japanische Fans nach den Spielen ihrer Mannschaft bei der Fußball-WM in Katar 2022 die Stadionränge aufräumen. Auch die japanischen Fußballer hinterlassen ihre Kabine blitzblank.

Hirayama, gespielt von Koji Yakusho, putzt Toiletten an Originalschauplätzen, die in den letzten Jahren von führenden japanischen Architekten wie dem Gewinner des Pritzker-Architekturpreises Ban Shigeru designt wurden. Nicht etwa für den Film, sondern für die Öffentlichkeit. Als die Nippon Foundation den deutschen Regisseur bittet, einen Dokumentarfilm über das „Tokyo Toilet Project“ zu drehen, erkennt der sehr schnell, dass hier das Potential zu einem Spielfilm steckt: „Ich war erstaunt, wie sehr Toiletten Teil der Alltagskultur sein können und nicht nur eine fast peinliche Notwendigkeit“, meint er gegenüber der Deutschen Welle.

Um ihre Seelen und Körper zu reinigen, übergießen sich Shinto-Gläubige mit kaltem Wasser.
Um ihre Seelen und Körper zu reinigen, übergießen sich Shinto-Gläubige mit kaltem Wasser. Häufig wird das „Misogi“ genannte Ritual an heiligen Orten wie Shinto-Schreinen praktiziert, oft aber auch in Flüssen oder unter Wasserfällen.

Sauberkeit ist in Japan weit mehr als Reinigung oder Ordnung halten.

Es ist eine Philosophie, die den Alltag und das ganze Leben der Japanerinnen und Japaner beeinflusst – übrigens unabhängig von hierarchischen Strukturen, die sonst in der Gesellschaft eine große Rolle spielen. Unter Japans Top-Managern hat das Toilettenputzen Tradition, es zählt – so merkwürdig das klingen mag – bis heute zu ihren Erfolgsrezepten. Der Gründer von Panasonic, Konosuke Matsushita, setzte schon in den 1920er-Jahren auf das Putzen der Bürotoiletten. „Wer einen so unangenehmen Ort reinigt, der zeigt seinen wahren Charakter als Mensch“, wird Matsushita von der Wirtschaftswoche zitiert. Der Gründer und CEO des Internetunternehmens Rakuten, Hiroshi Mikitani, schwört ebenfalls auf das Toilettenputzen. Jeden Montagmorgen schrubbt er – zusammen mit seinem Personal – die Firmenklos. Auch Comedian Takeshi Kitano, in Deutschland bekannt durch die TV-Spielshow „Takeshi’s Castle“, hält viel von dem japanischen Reinheitskult: Bei jedem Besuch seiner Stammkneipe macht er das Klo sauber.

„Das Reinigen von Toiletten macht Menschen demütig.“ Shuzaburo Kagiyama

Multimillionär Shuzaburo Kagiyama, der ein landesweites Netz von Filialen für Autozubehör aufbaute und über 2000 Mitarbeiter beschäftigt, vertritt das Credo: „Das Reinigen von Toiletten macht Menschen demütig.“ Der Wirtschaftswoche sagte der mittlerweile 90-Jährige, es gehe ihm darum, den Kardinalfehler Arroganz zu vermeiden. Und um Teamgeist. Beim Reinigen der Toiletten und Büroräume, ja selbst beim Fegen der Straßen und Müllsammeln in der Nachbarschaft helfen seine Mitarbeiter freiwillig und unbezahlt mit. Ältere und jüngere gleichermaßen. Dazu kommen sie morgens zwei Stunden, bevor ihre eigentliche Arbeit beginnt. „Für uns ist das keine lästige Pflicht“, sagt ein Angestellter, der schon sein Leben lang für Kagiyama arbeitet. Und sein junger Kollege ergänzt: „Es stärkt uns als Team. Außerdem gibt es uns ein gutes Gefühl, wenn wir etwas für die Gemeinschaft tun.“

Die von dem Architekten Sou Fujimoto entworfene Toilettenanlage soll mit ihren weißen geschwungenen Linien an ein überdimensionales Waschbecken erinnern.
Im Tokioter Stadtbezirk Shibuya haben Stararchitekten 17 Designtoiletten für die Öffentlichkeit entworfen. Die spektakulären Luxus-WCs sind ein Beleg dafür, welchen Stellenwert Sauberkeit in der japanischen Gesellschaft genießt. Die von dem Architekten Sou Fujimoto entworfene Toilettenanlage soll mit ihren weißen geschwungenen Linien an ein überdimensionales Waschbecken erinnern.
Diese Hightech-Toilette hat Stararchitekt Shigeru Ban entworfen. Sobald ein Toilettenbesucher die Türen von innen verriegelt, werden die aus mehreren Glasschichten bestehenden Wände undurchsichtig.

Etwas für die Gemeinschaft zu tun, das ist auch die Motivation der Non-Profit-Organisation „Green Bird“, die landesweit aktiv ist. Putzkolonnen, die sich aus Menschen jeden Alters und jeder Gesellschaftsschicht zusammensetzen, ziehen täglich mit Müllsäcken in unterschiedlichen Farben bewaffnet los, um die öffentlichen Plätze, Parks und Straßen zu reinigen. Im Vergleich zu anderen Ländern ist Japan ohnehin makellos sauber. Nur selten findet man achtlos weggeworfenen Müll oder Graffiti an Hauswänden, praktisch nie Zigarettenstummel oder auf Gehwegen klebende Kaugummis. Das bisschen Müll sammeln die Freiwilligen streng getrennt nach Recyclingvorschriften. Selbst in den Millionenmetropolen Tokio, Yokohama oder Osaka ist es absolut sauber, obwohl es nur wenige öffentliche Mülleimer gibt. „Die brauchen wir auch nicht“, winkt die 22-jährige Naomi ab, die sich schon seit sieben Jahren bei „Green Bird“ in der Hauptstadt engagiert und einmal pro Woche für ihre Mitmenschen Müll sammeln geht. Sie deutet auf ihren Rucksack: „Wenn wir privat unterwegs sind, haben wir immer eine kleine Mülltüte dabei. Das machen wir alle so. Unseren Müll von unterwegs entsorgen wir zu Hause.“

Die Hauptmission der Non-Profit-Organisation „Green Bird“ ist es, Städte sauber zu halten.
Die Hauptmission der Non-Profit-Organisation „Green Bird“ ist es, Städte sauber zu halten und das Bewusstsein für Umweltprobleme zu schärfen. Bei den regelmäßig organisierten Müllsammelaktionen kann jeder mitmachen.

Apropos zu Hause: Wie sieht es eigentlich hinter den Wohnungstüren aus? Die Antwort ist schlicht und einfach: sauber. Viele Japanerinnen und Japaner setzen auf die Reinigungsratschläge der in Tokio geborenen Marie Kondo, die durch Bücher wie „Magic Cleaning“ und die erfolgreiche Netflix-Serie „Aufräumen mit Marie Kondo“ weltberühmt geworden ist. Schon als Studentin hat die heute 40-Jährige ihre Putz- und Aufräumleidenschaft zum Beruf gemacht und ist dank der von ihr erfundenen „KonMari“-Methode inzwischen Multimillionärin. Ihr Credo: Ordnung beschert ein glücklicheres Leben. Ihre Tipps: Putze minimalistisch, mit Wasser und Tüchern und so wenig Chemikalien wie möglich. Und: Behalte nur das, was dir wirklich Freude bereitet. Wenn dir ein Gegenstand nicht sofort ein Glücksgefühl bereitet, bedanke dich bei ihm für seine Dienste – und dann trenne dich von ihm. Bei den unzähligen Wohnungen im Miniformat, die schnell aus allen Nähten platzen, beherzigen viele von Kondos Landsleuten das systematische Ausmisten.

Laut Reinigungs-Guru Marie Kondo (rechts im Bild) haben alle Gegenstände eine Seele und Gefühle.
Laut Reinigungs-Guru Marie Kondo (rechts im Bild) haben alle Gegenstände eine Seele und Gefühle. Wer sie achtlos auf einen Haufen wirft oder in eine Schublade stopft, macht sie unglücklich und zerquetscht sie. Dann ist es besser, sie wegzugeben, um sie von ihrem momentanen Leiden zu befreien.

Dass sich Körper und Geist nur in einer hygienischen und ordentlichen Umgebung wohlfühlen, lernen schon die Kleinsten. Im Kindergarten und in der Schule gehören Aufräumen, die Essensausgabe, der Abwasch, Bodenwischen und selbst das Toilettenputzen zum täglichen Stundenplan. Für Japans Nachwuchs ist das Putzen keine Strafe oder lästige Pflicht, sondern eher so etwas wie eine unterhaltsame Gemeinschaftsbeschäftigung. „Ich wollte auf keinen Fall, dass eine Putzkraft hinter mir herputzt“, sagt Naomi rückblickend über ihre Schulzeit „Das wäre mir peinlich gewesen.“ Zu Hause hat sie sich erst vor Kurzem wieder mit Hilfe der KonMari-Methode von Kleidung und Büchern getrennt. Auch sonst handhabt sie es wie die meisten ihrer Landsleute: Wer ihre winzige Wohnung betritt, wechselt die Straßenschuhe gegen Hauspantoffeln und wäscht sich die Hände. Wer zur Toilette muss, zieht wiederum die Hauspantoffeln aus und Badpantoffeln an. Selbst in Naomis kleiner Studentenbude gibt es ein Hightech-WC mit Sitzheizung, eingebauter Dusche und einem Fön zum Trocknen des Hinterteils. Auf engstem Raum befinden sich außerdem eine Dusche und eine Badewanne. „Ich bin sehr dankbar, dass ich ein Apartment mit beidem gefunden habe“, erklärt Naomi. „Ohne Dusche könnte ich die Badewanne gar nicht richtig nutzen.“ Japanerinnen und Japaner gehen nur gründlich gewaschen in die Badewanne, denn das Baden – in sauberem Wasser – dient ausschließlich der Erholung und geistigen Reinigung.

Das gemeinsame Baden ist tief in der japanischen Kultur verwurzelt und wichtig für den familiären Zusammenhalt.
Das gemeinsame Baden ist tief in der japanischen Kultur verwurzelt und wichtig für den familiären Zusammenhalt. Es fördert außerdem das Gefühl von Gleichheit, da alle Badenden, unabhängig von ihrem sozialen Status, die gleiche Badeeinrichtung nutzen.

Reinigungsrituale gehören in Japan zum Jahrtausende alten Kulturgut und sind ein zentraler Bestandteil des Shintoismus, der als Naturreligion neben dem Buddhismus existiert bzw. sich kontinuierlich mit ihm vermischt hat. Auch wenn nur 10 bis 15 Prozent der japanischen Bevölkerung von sich sagen, sie seien religiös, integrieren rund 90 Prozent Bestandteile beider Religionen in ihr Leben. So wie Naomis Studienfreund Kiyoshi, der vor wichtigen Prüfungen immer einen der vielen Shinto-Schreine in Tokio besucht. Nach einer Verbeugung am Haupttor geht er zum Schreinbrunnen – dem „temizuya“. Aus dem Maul eines eisernen Drachens plätschert Wasser, das er mit Hilfe einer Schöpfkelle auffängt, um Hände und Mund zu waschen. „Nur wenn man alle Schritte der rituellen Reinigung exakt befolgt, also erst die linke Hand reinigt mit der Schöpfkelle in der rechten Hand, dann umgekehrt, dann den Mund mit Wasser beträufelt, aber streng darauf achtet, dass das benutzte Wasser nicht zurück in den Brunnen gelangt und der Mund nicht die Kelle berührt“, erklärt Kiyoshi, „dann sind Körper und Seele reingewaschen von Sünden, und die bösen Geister bleiben draußen.“

Shinto-Tempel oder -Schreine dienen als heilige Orte, an denen die Kami (Götter oder Geister) verehrt werden.
Shinto-Tempel oder -Schreine dienen als heilige Orte, an denen die Kami (Götter oder Geister) verehrt werden. Allein in Tokio gibt es mehr als 1000 von ihnen.
Mit sogenannten „Hishaku“, Kellen aus Bambus, Holz oder Metall, schöpfen die Gläubigen Wasser aus dem Reinigungsbecken, um sich die Hände und den Mund zu reinigen, bevor sie den Tempel betreten.
Im Shintoismus sind Drachen mythologische Wesen, die häufig als Wächter der Wasserquellen angesehen werden. Aus ihren Mäulern fließt das Reinigungswasser vor den Shinto-Schreinen. Mit sogenannten „Hishaku“, Kellen aus Bambus, Holz oder Metall, schöpfen die Gläubigen Wasser aus dem Reinigungsbecken, um sich die Hände und den Mund zu reinigen, bevor sie den Tempel betreten.

Außerhalb der Shinto-Schreine pflegen die Japanerinnen und Japaner ihre Reinigungsrituale in öffentlichen Bädern. Stadtbewohner besuchen die sogenannten Sentos, Badehäuser, die kein Quell-, sondern Leitungswasser verwenden. Auf dem Land badet man in Onsen, „heißen Quellen“, die Japan seiner Lage am Pazifischen Feuerring verdankt. Das mineral- und schwefelhaltige Wasser findet quasi überall seinen Weg aus den vulkanischen Tiefen an die Oberfläche. Mehr als 3000 Onsen gibt es im ganzen Land. Und viele Regeln, die Besucher unbedingt beachten sollten. Einige davon sind: Schuhe aus, Kleidung aus, ausgiebig den Körper waschen vor dem eigentlichen Bad, den Schambereich mit einem kleinen Handtuch verdecken, wenn man von einem Becken ins andere wechselt, und peinlich genau darauf achten, dass das Handtuch nicht das Badewasser berührt. Wohin also damit? Japaner bewahren es zusammengefaltet auf dem Kopf auf, solange sie im Becken sitzen. Übrigens sind in vielen Onsen Tätowierungen immer noch verboten, weil sie mit der Yakuza-Mafia assoziiert werden.

Der Takaragawa Onsen liegt in einem malerischen Tal des gleichnamigen Flusses, umgeben von Bergen und Wäldern.
Der Takaragawa Onsen liegt in einem malerischen Tal des gleichnamigen Flusses, umgeben von Bergen und Wäldern. Seine Außenbäder (Rotenburo) gehören zu den größten in ganz Japan. Das Wasser ist reich an Mineralien und hat angeblich heilende Eigenschaften.

Naomi liebt es, in den Ferien Tokio hinter sich zu lassen und ihre Mutter und Großmutter zu besuchen. Zweieinhalb Stunden Fahrt einfach mit Bahn und Bus nimmt sie gerne auf sich, um den Takaragawa Onsen im gleichnamigen Ort zu erreichen. Hier treffen sich die drei am liebsten. „Takaragawa liegt versteckt in einem Wald, direkt an einem Gebirgsfluss“, schwärmt sie. „Seit meiner Kindheit komme ich hierher.“ Bevor die Frauen im heißen Becken relaxen, schrubbt Naomi ihrer Großmutter ausgiebig den Rücken. Zum Thema Sauberkeit hat die 80-Jährige immer wieder Weisheiten für ihre Enkelin parat. Zum Beispiel diese: „Sei deinem dreckigen Geschirr dankbar, dass du es abwaschen darfst. Denn deine Teller und Tassen ermöglichen es dir, von ihnen zu essen. Achte und reinige sie und gib ihnen einen guten Platz, damit sie dir noch lange Freude bereiten.“