Im Central Park und anderen Gemüsegärten
Löwenzahn war es, er erinnert sich genau, zwei, drei Bissen frischer Löwenzahn – und dann die NYPD-Dienstmarken und die Rechtsbelehrung und die Handschellen. Alles sei ganz schnell gegangen: Damals im Central Park, als sie Steve Brill verhafteten, den sie in New York nur den Wildman nennen.
Wie fast jeden Tag war der Naturkundelehrer mit einer Besuchergruppe unterwegs, und wie jedes Mal demonstrierte er seinen Gästen, dass man mit der Pflanzenwelt des Parks ein komplettes Abendessen zubereiten kann. Allerdings waren an diesem Tag zwei Undercover-Agenten der New Yorker Polizei unter den Teilnehmern. Mit versteckter Kamera, zwecks Beweisaufnahme. Als der Wildman den Löwenzahn in den Mund steckte, wurde er verhaftet. Grund: Verstoß gegen das Parkgesetz, nach dem nichts, was hier wächst, ausgerupft oder abgeschnitten werden darf, vom Aufessen ganz zu schweigen. Steve Brill wurde abgeführt. Die wichtigsten Beweismittel fehlten allerdings: Der Wildman hatte sie bereits geschluckt.
Und da kommt er, längst wieder auf freiem Fuß und außer Atem wie immer, Mitte 70 inzwischen, Vollbart, Brille und auf dem Kopf diesen Vietcong-Helm, den er seinen explorer’s hat nennt. Er schleppt zwei Taschen, die eine vollgestopft mit Bestimmungsbüchern, Notizheften und Broschüren für seine Touren und Vorträge, die andere mit irgendwelchen Gärtnerwerkzeugen: Man weiß ja nie, was einem fürs Abendessen über den Weg wächst. Steve Brill ist seit Jahren angeblich nichts mehr auf Gabel und Löffel gekommen, was nicht aus den Parks von New York stammte. Zuerst war das eine private Obsession des Naturkundlers und Buchautors: sich zu ernähren, als existierten die 10.428 Restaurants und Gemüseläden der Stadt nicht. "Irgendwann wollte ich das auch anderen zeigen, dass man im Sommer tatsächlich viel von dem essen kann, was in unseren Parks wächst”, sagt er. “Und dabei die Natur zu verstehen lernt.” Auch dem Gericht habe er das damals so erklärt. Brill wurde freigesprochen. Und eine landesweite Berühmtheit. "Der Mann, der den Central Park aufessen wollte” (Late-Night-Talker David Letterman) hatte seine Bestimmung gefunden.
Jetzt muss er sich aber erst einmal um die Virginische Kresse kümmern, die hat er nämlich aus den Augenwinkeln entdeckt, da vorne, ein paar Schritte vom Weg durch den Central Park entfernt (und vielleicht zweihundert Meter vom Verkehrslärm der 59th Street). Die sei eng mit dem Rucola verwandt, meint er und läuft auch schon los. Mit einem kleinen Messer schneidet Brill ein paar Stängel ab, hier, riechen bitte, na? “Hat man früher Poor Man’s Pepper genannt und zum Würzen verwendet. Wenn man die Samen mit Essig und Miso-Paste mixt, gibt das auch einen guten Senf.”
Aber ist das nicht verboten? Pflanzen im Central Park abzuschneiden oder auszurupfen? Offiziell immer noch, meint Brill. Seit seiner Verhaftung und dem folgenden PR-Desaster für die Stadtverwaltung werde das foraging, also die botanische Selbstversorgung, in den New Yorker Parks aber offiziell geduldet. “Zumindest so lange, wie man nicht jeden Tag Müllsäcke voller Pflanzen aus dem Park schleppt.”
Die grüne Lunge der Stadt
“The Park” – natürlich denkt man da bei New York immer sofort an den Central Park. Mit fast 350 Hektar ist die grüne Lunge des Big Apple größer als das Fürstentum Monaco. 1844 hatte William Cullen Bryant seine Planung angeregt, weil er ahnte, dass in der rasant nach Norden wachsenden Stadt sonst bald kein Fleckchen Grün mehr zu finden sei, und tatsächlich gibt es bis heute New Yorker, die in ihrem ganzen Leben kein anderes Stück Natur mit eigenen Augen sehen als den Central Park (und Menschen, die wissen, dass es Frühling ist, weil der Park grün wird und dass der Winter kommt, weil die Bäume im Park ihre Blätter verlieren).
“The Park” ist aber nicht der einzige in New York: Offiziell gibt es in der Stadt über vierzig Parkanlagen, von denen der Pelham Bay Park, der Van Cortland Park (beide in der Bronx), Flushing Meadows (Queens) und der Staten Island Greenbelt sogar größer sind als der Central Park. Näher an den touristischen Zentren der Stadt liegen Brooklyns wunderschöner Prospect Park oder der versteckte Garten der Trinity Church, in dem Wall-Street-Broker mittags ihr Sandwich essen. Dazu kommen noch an die 600 “community gardens”, kleine Gärten, in denen sich im Sommer komplette Nachbarschaften nach Feierabend zurückziehen.
“Für viele dieser Parks und Gärten haben die New Yorker lange kämpfen müssen”, erzählt Brill, während er am Ackerlauch schnuppert, den er am Rand einer Wiese entdeckt hat. Auch der Central Park sei immer wieder Ziel von Investoren gewesen. Man habe auf dem Gelände einen Flughafen bauen wollen, ein Theater mit 50.000 Sitzen und – 1917 – sogar Schützengräben, “um den New Yorkern zu zeigen, was die nach Europa entsandten Soldaten dort durchmachten.” Eigentlich, meint Brill, habe man den Park nie einfach nur Park sein lassen. “Stattdessen gab es immerzu neue Ideen, die Fläche anders zu nutzen. Natur ist vielen Leuten einfach nicht genug.”
Andere Parks und Gärten waren sogar bis vor Kurzem noch bedroht. Vor allem der frühere Bürgermeister (und spätere Trump-Anwalt) Rudy Giuliani versuchte während seiner Amtszeit, Grünflächen in Baugrundstücke umzuwandeln – und stieß dabei auf erheblichen Widerstand der New Yorker. Erst seit sich zu Beginn des neuen Jahrtausends auch in der Stadtverwaltung allmählich die Erkenntnis durchsetzte, dass Grünflächen immens wichtig sind für das Binnenklima einer Stadt, scheint das Überleben der community gardens gesichert. Mit der High-Line, einem Park auf einer 2,5 Kilometer langen, stillgelegten Güterzugtrasse, hat die Stadt sogar ein Vorzeigeprojekt auf den Weg gebracht.
Parks für Insider
Steve Brill läuft mit Touristen gerne durch den Central Park, “die bleiben ja meistens in Manhattan, wenn sie in der Stadt sind.” Mit New Yorker Tourteilnehmern besucht der Wildman lieber andere Parks, bei deren Aufzählung allein er ins Schwärmen gerät. Der Astoria Park – ein Schmuckstück! Der Alley Pond Park drüben in Queens – wilde Natur! Der Carl Schurz Park oben an der East End Avenue: klein, fein, mit umwerfendem Blick auf die Queensboro Bridge! Und der Prospect Park drüben in Brooklyn: “Komplett unterschätzt.”
Wie der Central Park wurde auch der Prospect Park vom Architekten-Duo Olmstead und Vaux entworfen, eröffnet wurde er 1867.
Er ist deutlich kleiner als sein Gegenstück in Manhattan und viel, viel leerer: Während in den Central Park jährlich weit über 40 Millionen Menschen kommen, sind es im Prospect Park nur etwa acht Millionen – und nur wenige von ihnen leben nicht in der Stadt. “Das ist wirklich ein Park für die New Yorker geblieben”, meint Brill und läuft dann auch schon wieder los, pflückt ein paar Blaubeeren und Wasserminze, gräbt vier Karotten aus, schnuppert an wildem Senf (“noch nicht aromatisch genug!”) und – man glaubt es kaum: Kaffeebohnen. Als er zwei Jungs entdeckt, die mit Stöcken auf vermeintliches Unkraut eindreschen, stellt er sie zur Rede. Brill versteht seinen Beruf als Berufung: Das Vermitteln von Naturverständnis als ein Fluchtweg hinaus aus dem High-Tech-Hexenkessel New York – zumindest für ein paar wenige Augenblicke funktioniert das meistens. Und wenn er Schulklassen über die Wiesen führt, versucht er den Kindern vor allem eines klar zu machen: Dass ihr Essen auch im Zeitalter von TikTok und Instagram nach wie vor aus der Natur kommt. Und Chat GPT keine Mahlzeit auf den Tisch bringt.
Er habe Jahre lang allein auf weiter Flur gekämpft, sagt der Wildman, zum Glück aber habe sich das Verständnis mittlerweile geändert. “Trotzdem sind unsere Parks in New York noch immer zu sehr Versailles und zu wenig englischer Landschaftsgarten.” Brill hält nichts von vielem, was viele in New York auch 2024 noch mit einem Park oder Garten verbinden: nichts von getrimmten Rasenflächen und teurer Skulpturen-Kunst, nichts von “Bitte den Spazierweg nicht verlassen!”-Schildern, nichts von eingezäunten Spielplätzen und erst recht nichts von dem permanenten Stutzen und Zurechtschneiden der Pflanzen durch die städtischen Gärtnertrupps. Wenn es nach ihm ginge, könnten die Bäume und Büsche in New Yorks Parks wuchern, wie sie wollten, “dann müssten Schulklassen auch nicht ins American Museum of Natural History gehen, um zu lernen, wie ein Biotop aussieht.”
Ein paar Jahre will er noch weitermachen und dann Helm und Taschen übergeben. Seine Tochter Violet hat ihn schon als 14-Jährige begleitet und will die Touren ihres Vaters übernehmen. Und seine Mission: die ebenfalls.
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