Forschen, ausbilden und Espresso trinken
Kaum eine Ausgrabungsstätte ist bedeutender als Pompeji am Fuß des Vesuvs. Aber nur mit vereinten internationalen Kräften hat die alte römische Stadt auch eine Zukunft.
Ralf Kilian hockt vor der Casa dei Postumii und rührt Mörtel an. Zusammen mit Kommilitonen und Experten hilft der damals 26-Jährige in Pompeji, die bröckelnde Fassade zu restaurieren. Mit von der Partie ist der Archäologiestudent Albrecht Matthaei. „Die gigantischen Ausmaße haben uns überwältigt“, erinnert sich Kilian an seinen ersten Besuch in der antiken Stadt. Das war im Jahr 2000. „Albrecht und ich beschlossen, irgendwann ein gemeinsames Projekt auf die Beine zu stellen. Wir träumten davon, dort ein Forschungs- und Ausbildungszentrum aufzubauen.“
Aus dem Traum der zwei jungen Studenten wird 2012 Realität: Kilian, heute Professor in Bamberg sowie Restaurator und Bauphysiker am Fraunhofer Institut, gründet zusammen mit dem Archäologen Dr. Matthaei, dem Freund aus Studententagen, das Pompeii Sustainable Preservation Project. Sie holen führende internationale Forschungsinstitutionen mit ins Boot, darunter die Universitäten aus Pisa und Oxford sowie die TU München. „Selbstverständlich stimmen wir alle Maßnahmen eng mit der Denkmalbehörde in Pompeji ab, die eigentlich für die antike Stätte zuständig ist“, sagt der Professor. „Aber ohne internationale Hilfe können die Italiener diese Mammutaufgabe unmöglich bewältigen. Pompeji ist zu Recht Weltkulturerbe – und deshalb sollte die Welt sich auch darum kümmern.“
Bis ins 18. Jahrhundert liegt Pompeji unter einer meterhohen Schicht aus Asche und Bims. Die konserviert Gebäude, Fresken, Mosaike und sogar die Menschen, die der Katastrophe zum Opfer gefallen sind. Doch was war mit Pompeji eigentlich geschehen? Am 24. August, einem Sommermorgen im Jahr 79, erschüttert eine mächtige Explosion das Alltagstreiben in den Straßen der Hafenstadt. Fassungslos blicken die Menschen zum nahegelegenen Vesuv und stellen fest, dass der gerade seinen Gipfel weggesprengt hat. Dass dieser Vulkanausbruch das Ende von Pompeji und der Nachbarstadt Herculaneum bedeutet, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Feuersäulen steigen aus dem Krater auf, eine gigantische Wolke aus Staub und Steinen macht den Tag zur Nacht. Schließlich prasseln Asche, glühende Brocken und Bimssteine auf Dächer, Menschen und Tiere nieder. 20 Zentimeter pro Stunde wächst all das an, was der Vulkan auf die Stadt spuckt. Gebäude brechen unter der Last zusammen, viele Einwohner von Pompeji werden erschlagen.
Gegen Mitternacht atmen die Überlebenden auf: „Der Zorn der Götter hat sich gelegt“, denken sie – und ahnen nicht, dass eine noch größere Katastrophe auf sie zukommt. Eine bis zu 700 Grad heiße Mischung aus Asche, Gesteinsstücken und sich ausdehnenden Gasen, der sogenannte pyroklastische Strom, fegt Stunden später durch die Gassen von Pompeji und Herculaneum – das Todesurteil für jeden, der bis dahin nicht aus der Stadt geflohen ist.
Diese schlimmste Naturkatastrophe der Antike entpuppt sich für die heutige Wissenschaft als wahrer Glücksfall. „Pompeji ist die größte zusammenhängende antike Stadt, die wir kennen“, sagt Professor Kilian. „Sie ist nicht nur für Archäologen und Restauratoren ein spannendes Terrain, sondern gibt uns auch Einblicke, wie die Menschen damals gelebt haben.“ Bis heute haben Archäologen knapp zwei Drittel der Ruinen freigelegt – luxuriöse Villen mit kostbaren Mosaikböden und Fresken, einfache Wohnhäuser, Tempel, Thermen und Theater.
Eindrucksvoll sind auch die Gipsabgüsse der Toten. Nachdem die Asche erkaltet und die Leichen verwest waren, blieben Hohlräume zurück. Diese füllten Giuseppe Fiorelli, im 19. Jahrhundert Ausgrabungsleiter in Pompeji, und seine Archäologen mit Gips aus und schufen so beeindruckende Zeitzeugnisse. „Besonders erschüttert mich die kniende Frau, die sich ein Stück Stoff gegen den Mund presst“, sagt Gabi aus Hamburg, eine von rund drei Millionen Besuchern, die jährlich nach Pompeji kommen. „Oder der Hund, der verzweifelt versucht, sich von seinem Pflock loszureißen.“
Ralf Kilian und das Pompeii Sustainable Preservation Project widmen sich nicht den menschlichen Überresten, sondern den Gebäuden. Genauer gesagt den antiken Gebäudeoberflächen: dem Putz, den Stukkaturen und den Wandmalereien, die davon erzählen, wie die Menschen in Pompeji gelebt haben. „Wenn wir das nicht tun würden, würden wir irgendwann vor schmucklosen Ziegelwänden stehen“, sagt Kilian.
So gut Pompeji rund 1700 Jahre unter seinem bis zu 20 Meter dicken „Leichentuch“ konserviert blieb, so stark ist sein Verfall, seitdem es wieder ans Tageslicht kam. Was die größte Gefahr für die Ausgrabungsstätte ist? „Vom Vesuv einmal abgesehen: das Wasser“, sagt Kilian. Aus dem Boden aufsteigende Feuchtigkeit nagt an Fundamenten und Wänden; und der Regen sorgt dafür, dass viele Wandmalereien bereits bis zur Unkenntlichkeit verblasst sind und überall Putz von den Wänden abblättert.
„Schutzdächer sind die einzige Möglichkeit, Pompeji für die nachfolgenden Generationen zu erhalten“, sagt Professor Kilian und teilt damit die Meinung vieler Experten. Im Frühjahr 2016 ist es so weit: Das erste, speziell von der Technischen Universität München entwickelte Schutzdach überspannt eines der Grabmäler an der Porta Nocera. Die Kosten, stolze 26.500 Euro, sponsert größtenteils Phoenix Pompeji, eine gemeinnützige Kulturinitiative, mit der Kilian zusammenarbeitet. „Das Material ist so langlebig und robust, dass es trotz Regen und intensiver Sonneneinstrahlung länger als 50 Jahre halten und selbst ein Erdbeben überstehen müsste.“
Ein weiteres wichtiges Anliegen des Pompeii Sustainable Preservation Projects ist, den wissenschaftlichen Nachwuchs vor Ort auszubilden. Kaum wurde die internationale Sommerakademie“ auf einer Website der UNESCO ausgeschrieben, gingen innerhalb kürzester Zeit über 100 Bewerbungen aus aller Welt ein. Zehn Studenten und Studentinnen aus Deutschland, Italien, Kroatien, Spanien und Syrien durften schließlich acht Wochen lang im größten Gräberareal von Pompeji antike Bauten untersuchen und sichern, abblätternden Putz und gelockerten Stuck fixieren, immer unter den wachsamen Augen von erfahrenen Spezialisten. „Das Know-how, das sich die Studenten hier aneignen, kommt nicht nur Pompeji zugute“, betont Kilian, „sondern auch Ausgrabungsstätten auf der ganzen Welt.“
Die Kosten in Höhe von rund 150.000 Euro für Unterbringung, Verpflegung, Material etc. hat eine Stiftung aus den USA übernommen. Damit die Sommerakademie regelmäßig stattfinden kann, sind großzügige Mäzene notwendig. Denn alle Maßnahmen des Pompeii Sustainable Preservation Projects finanzieren sich nicht durch öffentliche Gelder, sondern ausschließlich über Spenden.
Mit deutlich höheren Summen jongliert das Grande Progetto Pompeji, das die Europäische Union und die italienische Regierung gemeinschaftlich mit über 100 Millionen Euro ermöglichen. Ziel ist es, das UNESCO Welterbe vor seinem zweiten Untergang zu bewahren – nachdem dramatische Ereignisse die Verantwortlichen und die Öffentlichkeit wachgerüttelt hatten: der Einsturz der Schola Armatorum nach heftigen Regenfällen, die Verstrickung der Camorra in Ausschreibungen und die Drohung der UNESCO. Pompeji werde von der Welterbeliste gestrichen, so die Organisation der Vereinten Nationen, wenn der italienische Staat nicht endlich einen Rettungsplan für Pompeji vorlege.
Dass das Geld innerhalb von etwas mehr als zwei Jahren ausgegeben werden muss, bezeichnet Professor Kilian als „eine große Herausforderung“. Allein eine vernünftige Planung bei einem so großen Projekt dauere einfach seine Zeit, und qualifizierte Handwerker für eine so anspruchsvolle Aufgabe gebe es auch nicht wie Sand am Meer. „Natürlich kann irgendein Maurer auf die Schnelle eine eingestürzte Mauer wiederaufbauen. Für uns Restauratoren können dadurch aber wertvolle Informationen für immer verloren gehen.“
Trotz aller negativen Schlagzeilen betont der Münchner, „wie viel wahnsinnig Positives in letzter Zeit passiert ist. Vor allem, seit Massimo Osanna oberster Denkmalpfleger in Pompeji ist.“ Dazu zählt, dass unter dessen Leitung die archäologische Substanz systematisch geprüft und Schäden sofort behoben werden, um weitere Einstürze zu vermeiden; oder dass private Sicherheitsdienste jetzt aufpassen, dass Touristen nicht ihren Namen in die Jahrtausende alten Wände ritzen oder Steine als Souvenir mitnehmen.
Aber lohnt es sich überhaupt, so viel Geld und Arbeit in Pompeji zu stecken? Wo der Vesuv doch jederzeit wieder ausbrechen kann? „Auf jeden Fall!“, meint Kilian. „Für Archäologen und Restauratoren gibt es keinen besseren Ort, um zu forschen, um Studenten auszubilden und ...“ – das fügt der Professor mit einem Augenzwinkern hinzu – „um echten, italienischen Espresso zu trinken.“ Den besten weit und breit gibt es seiner Meinung nach in der Pasticceria De Vivo, gleich vor den Toren der antiken Ausgrabungsstätte.
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