Die Riffretter

Titouan Bernicot lebt im Paradies, auf der zu Französisch-Polynesien gehörenden Vulkaninsel Moorea mitten im Südpazifik. Vor neun Jahren fährt er zusammen mit ein paar Freunden in einem Boot raus auf das Meer, ihre Surfboards im Schlepptau. Die besten Wellen türmen sich an dem vorgelagerten Korallenriff auf. „Ein Leben lang kannte ich unser Riff als farbenprächtigen Ort“, erinnert er sich. „Doch über Nacht hatte das Riff seine Farben verloren, war plötzlich komplett weiß.“ In Gesprächen mit den Inselbewohnern findet der damals 16-Jährige heraus, dass sich direkt vor seinen Augen eine ökologische Katastrophe abspielt.

„Meine Katzen und Hunde sind die Stachelrochen und Haie. Wenn ich bei ihnen bin, weiß ich, warum ich für ihren Lebensraum kämpfe.“ Titouan Bernicot

Von dem Phänomen der Korallenbleiche sind mittlerweile drei Viertel aller Korallenriffe weltweit betroffen. Immer häufiger kommt es aufgrund von verschiedenen Umweltstressoren, wie erhöhter Meerestemperaturen, übermäßiger UV-Strahlung, Verschmutzung und Veränderungen im Salzgehalt, zu globalen Korallenbleiche-Ereignissen, zuletzt 2023/2024. „Eine Tragödie“, beklagt Professor David Smith, Chef-Meeresbiologe bei Mars, Inc. „Die Korallenriffe repräsentieren weniger als ein Prozent des Meeresgrundes, beherbergen aber 25 Prozent aller Meereslebewesen.“ Ein einziges, gesundes Riff beheimatet Tausende Arten und dient als Laichplatz. Jährlich bringen Korallenriffe Fische und Meeresfrüchte im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar hervor, ernähren Millionen Menschen und bescheren den lokalen Volkswirtschaften lukrative Einnahmen durch Touristen. Außerdem fungieren sie als natürliche Barrieren, die Küsten vor Erosion und Sturmschäden schützen.

Lange Zeit herrscht Unklarheit darüber, zu welcher Gattung von Lebewesen die Korallen zählen. Heute ist klar, dass Korallen zu der Gruppe der Nesseltiere gehören. Sie leben mit sogenannten Zooxanthellen in Symbiose: Die mikroskopisch kleine Algenart siedelt sich millionenfach auf der Außenhaut der Korallen an, erhält lebenswichtige Nährstoffe, mit denen sie Photosynthese betreiben kann. Dabei entstehen Sauerstoff und Glukose, die wiederum den Korallen Nahrung und Energie liefern. Titouan Bernicot hat gelernt, dass die Zooxanthellen Giftstoffe produzieren, wenn die Wassertemperatur nur um ein bis zwei Grad Celsius über den normalen Sommerhöchstwert steigt. Das führt zu einer Abwehrreaktion ihrer Wirte: Sie stoßen die Algen ab. Ohne deren Pigmente verlieren die Korallen ihre Farbe. Kühlt sich das Wasser nicht innerhalb weniger Wochen ab, kehren die symbiotischen Algen nicht zurück, die Koralle bleibt weiß und verhungert.

Titouan Bernicot lernte und lernt von Meeresbiologen und Korallenexperten, doch einen großen Teil seines Wissens hat er sich durch Versuch und Irrtum selbst angeeignet.

Die Prognose ist düster: Führende Meereswissenschaftler, darunter Professor David Smith, betonen, dass über 90 Prozent der Korallenriffe bis 2050 verschwinden könnten, wenn keine drastischen Maßnahmen ergriffen werden, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren und den Klimawandel zu bekämpfen. „Darauf zu warten, dass die Regierungen etwas tun, kam für mich nicht in Frage“, sagt Titouan rückblickend. Im April 2017, mit gerade einmal 18 Jahren, beschließt er, „Coral Gardeners“ als gemeinnützigen Verein zu gründen. „Als ich das sterbende Korallenriff zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich: Die Riffe zu retten, ist meine Lebensaufgabe.“ Es gelingt ihm, seinen Freund Taiano für das Vorhaben zu begeistern. „Titouan fragte mich, ob ich irgendwelche Pläne für die Zukunft habe“, erinnert sich der junge Mann mit der langen blonden Mähne und grinst. „Nein, kein Plan. Hast du eine Idee?“ Titouan erzählt von seiner Vision, das Riff vor Moorea zu renaturieren – und später Riffe weltweit. Taiano lässt sich auf das Experiment ein: „Okay, Bro, lass uns die Riffe retten!“

Was wie ein cooles Hirngespinst von zwei Surffreunden klingt, ist alles andere als das: Nach inzwischen sieben Jahren sind die „Coral Gardeners“ eine international anerkannte Organisation, die bislang über 30.000 Korallen gepflanzt, finanzkräftige Unterstützer wie die Nobeluhrenmarke Rolex gewonnen und renommierte Wissenschaftler ins Boot geholt hat. Von dem Meeresbiologen Dr. Austin Bowden-Kerby, der als Koryphäe bezüglich der Vermehrung besonders widerstandsfähiger „Superkorallen“ gilt, lernen sie zum Beispiel, wie man Korallen fragmentiert, also abgebrochene Korallenstücke in noch kleinere Stücke zerlegt, sie in Tischkindergärten unter Wasser pflegt und dann an beschädigten Stellen des Riffs mit Hilfe von Zement oder speziell entwickelten Edelstahlclips anklebt. Dabei sei nicht die Anzahl der gepflanzten Korallen langfristig wichtig, sondern ihre Bleichresistenz, betont Dr. Bowden-Kerby.

Bernicot und sein Team sammeln im seichten Wasser abgebrochene Stücke des Riffs ein, kleben sie auf Bambusstöcke und installieren sie dann in ca. zwei Metern Tiefe auf Tischkindergärten. Wenn sie kräftig genug sind, werden sie auf beschädigten oder toten Riffen befestigt, um diese zu neuem Leben zu erwecken.

Mittlerweile gibt es auf der ganzen Welt unzählige Initiativen zur Rettung der Korallenriffe, so auch in Indonesien. Dort sorgte nicht der Klimawandel, sondern das heutzutage verbotene Fischen mit Sprengstoff dafür, dass die Korallenriffe in den 1980er- und 1990er-Jahren zerstört wurden. Die von Fischern meist selbstgebastelten Bomben verursachen bei ihrer Explosion enorme Druckwellen. Dabei werden nicht nur Fische massenhaft getötet, sondern auch die empfindlichen Korallenriffe zerschmettert. Fatalerweise verwandeln die Detonationen auch den Meeresboden in ein Geröllfeld und nehmen den Korallen damit die Chance, sich wieder anzusiedeln. Denn das gelingt ihnen nur auf einem stabilen Untergrund.

Seit 2019 installieren Wissenschaftler vom Mars-Korallen-Restaurierungs-Programm unter der Leitung von Prof. David Smith vor der kleinen Insel Bontosua im Westen Sulawesis Tausende Riffsterne auf dem Meeresboden. Ungefähr zwölf Korallenfragmente werden auf jeder dieser autoreifengroßen, mit Sand beschichteten Stahlkonstruktionen befestigt. Taucher versenken die Riffsterne und befestigen sie auf dem Meeresboden, damit dort große Kolonien heranwachsen. „Wir haben die Menschen, die auf Bontosua leben, ein Jahr lang geschult, damit sie die Bedeutung des Projektes verstehen und mitarbeiten können“, erklärt Smith‘ Kollege Noel Janetski. Mit Erfolg: Die Einheimischen unterstützen das Projekt tatkräftig. Schließlich können sie damit Geld verdienen und sich aktiv daran beteiligen, dass die Fische zurückkehren.

Tim Gordon widmet seine Forschung genau diesem Aspekt: Wie lassen sich Fische, die ein totes Korallenriff verlassen haben, zurücklocken? „Fische entscheiden anhand von Geräuschen, ob ein Lebensraum gut oder schlecht für sie geeignet ist“, erklärt der britische Meeresbiologe gegenüber dem Deutschlandfunk. Ein gesundes Korallenriff ist laut. „Als erstes bemerkt man dieses ständige Knistern und Knacken, wie der Klang von Speck beim Braten in der Pfanne. Das kommt von den Tausenden Shrimps, die mit ihren Scheren klappern. Und dazu gesellen sich die vielfältigen Klänge der Fische.“ Wenn das Korallenriff abgestorben ist und seine Bewohner entweder verendet oder ausgezogen sind, ist es dagegen totenstill.

Sind Korallen gesund, leuchten sie in bunten Farben. Obwohl sie aussehen wie Unterwasser-Blumen, sind sie keine Pflanzen. Korallen gehören – wie Quallen oder Seeanemonen – zur Gattung der Nesseltiere. Die einzelnen Tiere mit einem Durchmesser von einigen Millimetern heißen Polypen. Die Polypen der Steinkorallen bilden als Kolonien ein gemeinsames Skelett, das zum Fundament eines Riffs wird.

Am größten Korallenriff der Welt, dem Great Barrier Reef, experimentiert Gordon erfolgreich mit Unterwasserlautsprechern, die er an 33 abgestorbenen Stellen installiert. Bei einem Drittel spielt er Aufnahmen aus einem gesunden Riff ab und schafft es damit tatsächlich, innerhalb von nur sechs Wochen – ausschließlich an den beschallten Standorten – die Zahl der Fische zu verdoppeln. Der Trick mit den Lautsprechern kann Renaturierungsmaßnahmen in Zukunft unterstützen. „Die Fische tun so viele wichtige Dinge für das Ökosystem. Sie halten zum Beispiel den Seetang fern und schaffen den Korallen damit Lebensraum“, meint Gordon. „Wenn wir sie also schneller herbeirufen können, können wir den ganzen Erholungsprozess eines Riffes beschleunigen.“

Je schneller, desto besser – das gilt für alle Projekte weltweit, die das Korallensterben aufhalten wollen. Denn der Klimawandel schreitet immer rasanter voran. In Freeport auf Grand Bahama betreibt das von den jungen US-Amerikanern Sam Teicher und Gator Halpern gegründete Unternehmen „Coral Vita“ die weltweit erste kommerzielle, landbasierte Korallenfarm zur Riffsanierung. „Bis jetzt waren fast alle Korallenprojekte durch Fördergelder und Spenden finanziert“, sagt Halpern, „wir aber verkaufen unsere Dienstleistung an Kunden, für die nachhaltiger Tourismus, Fischerei und Küstenschutz wichtig sind. So sind wir finanziell unabhängiger und können in größeren Dimensionen denken und handeln.“

Einen Großauftrag hat das Start-up gerade aus den Vereinigten Arabischen Emiraten erhalten und arbeitet mit Dubai Ports World an der Errichtung einer Pilotanlage. Aus internationalen Restaurierungsexperten wurde „Coral Vita“ ausgewählt, um das weltweit größte Korallenrenaturierungsprojekt am Roten Meer mit ihrer Expertise zu begleiten. Ziel ist es, zusammen mit der King Abdullah University of Science and Technology (KAUST) zunächst jährlich 40.000 Korallen zu produzieren und zu installieren. In der zweiten Phase soll die Kapazität sogar auf bis zu 400.000 Korallen pro Jahr erhöht werden.

Alles Handarbeit: Eine Mitarbeiterin von Corals for Conservation befestigt Korallen auf einem Riffstern, der später im Meeresboden verankert wird.

Dabei kommt die Methode der „Mikrofragmentierung“, die von Dr. David Vaughan und seinem Team am Mote Marine Laboratory in Florida erfunden und von „Coral Vita“ übernommen wurde, zum Einsatz. Dieses Verfahren beschleunigt das Wachstum der Korallen um das bis zu 50-fache im Vergleich zum natürlichen Wachstum. Dr. Vaughan entdeckte zufällig, dass Korallenfragmente, die in sehr kleine Stücke geschnitten werden, viel schneller wachsen als größere Fragmente. An Land lässt sich die Zucht nicht nur mit weniger Aufwand überwachen, sondern auch leichter manipulieren. „In unseren Becken können wir die Korallen gegen die Erwärmung und Versauerung der Meere resistenter machen“, erläutert Gator Halpern. „Wir erhöhen die Temperatur oder senken den pH-Wert, und so können die Korallen lernen, unter diesen erschwerten Bedingungen zu überleben.“ Korallen, die am besten mit den wärmeren Bedingungen klarkommen, setzen sie als Grundlage für die weitere Zucht ein. „Wir greifen in die Evolution ein“, erläutert der 34-Jährige, „und beschleunigen einen Prozess, der sonst Jahrzehnte dauern würde.“ Zeit, die die Korallen nicht mehr haben.


Außerdem wissenswert:

Die marine Hitzewelle, die im Juli und August 2023 das Meer vor den Florida Keys erfasste, hat weite Teile des drittgrößten Korallenriffsystems der Erde zerstört – und bei einigen Wissenschaftlern und Korallenexperten den Glauben an die Korallenriff-Restaurierung erschüttert: Die Korallenbleiche hat auch nicht vor den von ihnen ausgebrachten, besonders wärmeresistenten Korallen haltgemacht. Manche Experten stellen den Nutzen der Korallenaufzucht und -ausbringung nun gänzlich in Frage. „Der einzige Weg, nachhaltig etwas zu bewirken, ist die Reduzierung der Treibhausgasemissionen“, meint etwa Professor John Bruno, Meeresökologe an der Universität von North Carolina, gegenüber dem amerikanischen Online-Magazin Huffpost.


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