Fast zu schön um wahr zu sein – die Cotswolds
Nicht weit von London beginnt die Idylle: sanfte Hügellandschaften, kleine Bilderbuchdörfer und freundliche Bewohner – willkommen in einem ganz besonderen Landstrich.
Und dann wird die Fahrbahn plötzlich enger, und hinter der nächsten Kurve noch enger, und dann ist aus der englischen Landstraße ein schmaler Pfad durchs Hinterland geworden, der links und rechts von Hecken eingefasst wird. Natürlich kann das nicht richtig sein. Natürlich ist auch klar, wie das passiert ist: Beim Frühstück vorhin ist das passiert. Selbstverständlich kenne er den Weg nach Barton-on-the-Heath, hatte Jonathan da gesagt: Vom Parkplatz nach links, durch Little Rollright und bei der zweiten Scheune hinter dem Ort rechts. Eine knappe Meile geradeaus, dann scharf links und gleich wieder rechts, schon sei man da.
Jonathan arbeitet im Red Lion: Pub, Restaurant, Hotel, ruhige Lage, großer Biergarten. Ab sieben serviert er English Breakfast. Ab elf zapft er das erste Ale. Nachmittags hilft er älteren Damen vom Auto ins Haus, anschließend kümmert er sich ums Dinner. Stunden später erzählt er den letzten Gästen dann Spukgeschichten. Jonathan ist immer ansprechbar, immer hilfsbereit, immer da. Er scheint das Red Lion nie zu verlassen. Vielleicht sind seine Wegbeschreibungen deshalb eher ungenau. Vielleicht hat er Barton-on-the-Heath auch mit Upton-on-Severn verwechselt. Oder mit Stow-on-the-Wold.
NAMEN WIE VON LORIOT
Die Cotswolds sind ein Landstrich mit Ortsnamen wie aus einem Loriot-Sketch, Wootten Bassett, Chipping Campden, Honey Knob Hill, Waterley Bottoms, man möchte gar nicht wissen, wie lange Schulkinder hier brauchen, bis sie ihre Adresse fehlerfrei aufschreiben können.
Manche dieser wunderlichen Ortsnamen unterscheiden sich außerdem nur in Nuancen, und das hat Folgen für Besucher. Die verirren sich hier öfter, weil sie die Hinweisschilder mit den Loriot-Ortsnamen im Vorbeifahren falsch lesen. Irgendwann schleicht man dann auf der Suche nach Barton-on-the-Heath zaghaft über ein tunnelartig zugewachsenes Sträßchen, auf dem man nirgends wenden kann. Und hofft, dass einem kein Traktor entgegenkommt. Oder ein Lastwagen mit Schafen auf der Ladefläche. Beide Fahrzeugtypen sind in der Gegend hier weit verbreitet.
Die Cotswolds: So heißt eine Region im Herzen Englands, deren Eckpunkte Oxford, Gloucester, Bath und Stratford-upon-Avon zugleich ihre größten Städte sind. Alle ungefähr 176 Orte zwischen diesen vier sind deutlich kleiner. Einige sind winzig. Manche bestehen bloß aus einer Handvoll Häusern. Die Cotswolds sprechen sich übrigens so aus, wie sie geschrieben werden; der Name stammt möglicherweise von Hügeln (Wolds), die einst einem gewissen Cot gehörten: Cot’s Wolds eben. Sie gelten schon seit ein paar Jahren als Refugium gut situierter Hauptstädter. Als ländlicher Gegenpol zur lärmenden Metropole. In den Cotswolds, behaupten die Londoner, denkst du schon nach einer Stunde nicht mehr an Rishi Sunak und die Streiks bei der Tube, sondern nur noch an hausgemachte Scones mit Blaubeermarmelade, ein Glas Chardonnay vor dem Dinner und daran, wie zauberhaft die Wiesen im Frühling duften. Als Besucher muss man hier bloß dreißig Minuten unterwegs sein, um zu wissen: Wahrscheinlich stimmt das alles.
EIN GEFÜHL VON FRÜHER
Es gibt ja diese raren Gegenden auf der Welt, deren Schönheit einen schon nach kurzer Zeit völlig in den Bann zieht. Meistens hat das damit zu tun, dass diese Landschaften etwas ausstrahlen, das dem Rest der Welt abhandengekommen ist. Ruhe, Weite, Frieden, ein Gefühl von Früher. Auch in den Cotswolds beschleicht einen ziemlich schnell der Verdacht, in eine andere Zeit gereist zu sein. So muss es früher in England überall ausgesehen haben! In alle Richtungen strecken sich sanfte, grüne Hügel bis zum Horizont, dazwischen stehen alte Steinmauern und Hecken, zwischendrin liegen kleine Haine. Die Orte sind so malerisch, wie man es sich nur vorstellen kann, mit alten Häusern aus Stein und Pubs aus dem 17. Jahrhundert. Man sieht trutzige Burgen und spitze Kirchtürme und jede Menge Kühe und Schafe. Es ist so ein bisschen, als lägen die Cotswolds in einer Art Paralleluniversum.
Selbstverständlich wird so eine besondere Gegend dann auch von einem besonderen Menschenschlag bewohnt. Die meisten Leute hier sind zuvorkommend freundlich und ausgesprochen hilfsbereit. Außerdem machen sie den Eindruck, als hegten sie einen gewissen Stolz für ihre Region, ohne jedoch darüber sprechen zu wollen. Stattdessen legt der Käseverkäufer auf dem Markt ein kleines Zusatzstück Double Gloucester in die Tüte („mein Nachbar macht den“). Von der Politesse gibt es kein Protokoll, sondern den Tipp, zum Lunch unbedingt die Sandwichs bei Caroline vorne an der Ecke zu probieren, bessere gebe es nicht. Der Tankwart wiederum hört den Akzent des Kunden und überreicht sofort einen Flyer: Chorkonzert heute Abend drüben in Moreton-on-March, seine Tochter singe mit – vielleicht wolle man ja vorbeischauen, es werde bestimmt schön.
Auch wegen solcher Momente ist der beste Plan für eine Reise durch die Cotswolds möglicherweise, überhaupt keinen zu haben. Denn egal, was man sich vornimmt: Es kommt alles anders. Statt ins Museum zu gehen, bleibt man in Chipping Norton auf dem Bauernmarkt hängen. Zwischen Coln-St.-Aldwyns und Northleach ist die Landschaft so wunderschön, dass ein ausgedehnter Spaziergang über die Wiesen eingelegt wird. Von dem bezaubernden Café in einem Obstgarten bei Cheltenham (Triple Chocolate Chunk Cookies! Brombeer-Milchshakes!) stand im Reiseführer auch nichts. So geht das jeden Tag. So geht das jeden Tag mehrmals. Am Ende verbringt man die meiste Zeit in den Cotswolds an Orten, an die man bei der Reiseplanung noch nicht einmal gedacht hat.
Was vielleicht auch gut so ist. Die bekannten Städtchen der Region sind nämlich mittlerweile etwas zu bekannt – in Bourton-on-the-Water oder Upper Slaughter wird es an manchen Tagen etwas eng. Ach, die Touristen seien doch alle sehr nett, meint Mary. Sie trägt Gummistiefel und eine dieser typisch britischen Wachsjacken und belädt gerade einen historischen, rostigen Land Rover, der ungefähr so alt sein dürfte wie sie. Na gut, an manchen Tagen werde ihr der Trubel zu viel, sagt sie. Vor allem dann, wenn neugierige Besucher durch die Fenster ins Wohnzimmer schauen würden. „Dann gehe ich einfach in den Garten hinterm Haus. Ich kümmere mich sowieso viel zu selten um meine Rosen.“ Sie überlegt einen Moment. „Wollen Sie sich die mal ansehen? In diesem Jahr blühen die wunderschön.“ Mary läuft los, ohne eine Antwort abzuwarten. „Ich hole inzwischen die Scones aus der Küche. Das Teewasser müsste auch fertig sein.“
DAS HIMMELBETT VON BERKELEY CASTLE
Wer dann auch noch eine echte Sehenswürdigkeit sehen möchte, also eine, die in jedem Reiseführer drin steht: Für den ist Berkeley Castle drüben in Gloucestershire ein guter Tipp. Keine andere Burg in England befindet sich seit dem 12. Jahrhundert im Besitz der gleichen Familie, lediglich der Tower of London und Schloss Windsor sind noch länger bewohnt als diese mittelalterliche Feste.
Linda McLaren führt Besucher immerhin auch schon seit über zwanzig Jahren durch die Burg und packt im Schlafgemach gleich noch einen Rekord drauf: „Das Himmelbett ist das – pay attention to this: am längsten von ein und derselben Familie benutzte Möbelstück im Vereinigten Königreich!“ Bevor man darüber länger nachdenken kann, ist Linda bereits beim nächsten Ausstellungstück. „Diese Schatztruhe hatte Francis Drake in seiner Kapitänskajüte stehen.“ Sie erzählt von den Kaperfahrten des Freibeuters, der in der Karibik Spaniens Galeonen aufbrachte und ihre Ladungen übernahm. „Gut möglich, dass einst das Gold der Inka in dieser Truhe steckte. Das von Pachacútec Yupanqui und Huayna Cápac und den anderen.“
An die ähnlich komplizierten Cotswolds-Namen gewöhnt man sich übrigens auch bis ganz zum Ende der Reise nicht. Stretton-on-Fossee! Ashton-under-Hill! Und Barton-on-the-Heath, natürlich. Auf der Suche nach dem Ort kam auf der schmalen Straße zum Glück kein Traktor entgegen. Auch kein Lastwagen mit Schafen. Allerdings kam auch Barton-on-the-Heath nicht, stattdessen aber plötzlich Little Compton: Zwei, drei bezaubernde Straßenzüge, blühende Gärten, alte Bäume mit gewaltigen Kronen, eine Entenfamilie, die über den Gehsteig watschelte – einer dieser Orte, in denen man sich auf eine Bank setzt und der Zeit zusieht, wie sie vorübergeht. So ein bisschen ist eine Reise durch die Cotswolds wie eine Reise durch das eigene Leben, der Gedanke kommt einem dann irgendwann. Manchmal ist es besser, vom eingeschlagenen Weg abzubiegen. Gemachte Pläne zu ignorieren. Entdeckungsfreudig zu sein und gespannt darauf, was hinter der nächsten Ecke wartet. Beziehungsweise: am Ende dieses Pfads durchs Hinterland.
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